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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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    Das kalifornische Sacramento-Delta ist
ein seltsames und schönes Gebiet, unendlich weit von den politischen Umtrieben
der Hauptstadt im Norden und der glitzernden Scheinwelt der Bay Area von San
Francisco im Westen entfernt. Wenn man den Durchschnittskalifornier nach dem
Delta fragt, weiß er vermutlich wenig darüber, obwohl es ein Gewirr von tausend
Meilen von natürlichen Wasserstraßen umfaßt und den besten Ackerboden im Land
hat. Leute, die zur günstigen Jahreszeit hingefahren sind, haben vielleicht
noch vage Bilder in ihrer Erinnerung an ein sommerliches Paradies von träge
dahinfließenden Wasserarmen, an Inseln, auf denen Tomaten und Spargel und Obst
in der Sonne reifen, und an Jachthäfen voller Boote. Doch wer das Delta gut
kennt, weiß auch über seine weniger gastfreundliche Seite Bescheid, über die
Winterabende mit Sturm und Regen, wenn das Wasser steigt und die schmalen
Deichstraßen kein Ort für Ängstliche oder Fremde sind.
    Das Delta wird immer wieder Opfer der
feindlichen Elemente. Alle paar Winter zieht eine Serie von verheerenden
Stürmen über es hinweg, Dämme brechen, Inseln werden überschwemmt, und Hunderte
von Menschen müssen ihre Häuser verlassen. Doch wenn der Himmel wieder klar
ist, kehren die Einwohner zurück — von denen viele alles verloren haben — ,
säubern das Wohnzimmer von Schlamm und Schutt und beginnen wieder von vorn. Das
scheint die Art der Delta-Leute zu sein: Ein überwältigender Nestinstinkt zieht
sie zu dem Land zurück, obwohl sie wissen, daß das Wasser in ein paar Jahren
wieder einmal steigen wird und eines Tages das Land völlig zerstören könnte.
    Ich lernte die unfreundliche Seite des
Deltas an einem rauhen Februarabend aus erster Hand kennen. Vor allem wurde mir
bewußt, wie unberechenbar und verhängnisvoll veränderlich das Wetter sein
konnte.
    Ich war am Nachmittag gegen drei Uhr
von San Francisco losgefahren, und als ich schließlich den Caldecott-Tunnel und
die Vororte des Contra Costa County hinter mir hatte und die kahlen Hügel, die
vom Winterregen grün waren, erreichte, hatte sich der Himmel bezogen, ein
graugefleckter Schleier, der mit keinem Anzeichen einen heraufziehenden Sturm
ankündigte.
    In Antioch, dem Tor zum Delta,
überspannte eine weiße geschwungene Brücke den San-Joaquin-Fluß. Während ich am
Mauthäuschen wartete, warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe halb
fünf. Zum Abendessen sollte ich an einem Ort namens Appleby Island sein,
südöstlich einer kleinen Stadt namens Walnut Grove. Appleby Island liegt in der
nördlichen Gabelung des Mokelume River und des Hermit’s Slough.
    Die Namen hatten, wie so viele im
Delta, einen beunruhigenden Klang, und ich wünschte, ich wäre in besserer Laune
gewesen und hätte meiner Phantasie freien Lauf lassen und über mein Fahrtziel
Betrachtungen anstellen können. Aber ich fühlte mich ziemlich schwunglos, und
während ich über die Brücke fuhr, verfiel ich wieder in die Stimmung eines
dumpfen, automatischen Dahinfahrens.
    Das Land vor mir hatte sich verändert,
es war jetzt völlig flach, wie im Mittelwesten. Hochspannungsmaste zogen sich
darüber hin. Die Flecken am Himmel traten deutlicher hervor, manche waren immer
noch grau, andere schwarz, von einem seltsamen hellen Schimmer umgeben.
    Die Temperatur war stark gefallen, die
Luft voll Ozon. Ich stellte die Heizung in meinem alten MG an und überlegte, ob
ich den dicken irischen Fischerpullover in die Reisetasche gepackt hatte, die
auf dem Nebensitz lag. Eigentlich spielte es keine Rolle. Patsy würde mir
notfalls etwas leihen. Wir hatten früher häufig die Kleider getauscht.
    Ich mußte zugeben, daß ich mir wegen
meiner jüngeren Schwester Sorgen machte. Und das war an sich schon seltsam,
denn von uns McCones hatte ich sie immer als die stabilste und selbstsicherste
gehaltet.
    In Gedanken ging ich noch einmal das
Gespräch durch, das wir mittags geführt hatten, und suchte nach Erklärungen und
Hinweisen. Doch ich konnte nichts Konkretes entdecken. Ich wußte nur, daß Patsy
Angst hatte, was sehr untypisch für sie war, und mich um Hilfe gebeten hatte.
Nach einer Weile hörte ich auf, darüber nachzugrübeln, ließ mich von der
Schönheit der Gegend einlullen und fuhr einfach friedlich dahin.
    In weniger als einer halben Stunde fiel
die Dämmerung ein, und der Charakter der Gegend änderte sich erneut. Die Straße
wurde schmaler und zog sich jetzt auf einem Deich dahin. Auf der einen Seite
war Ackerland, auf der
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