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Eine Frage der Balance

Eine Frage der Balance

Titel: Eine Frage der Balance
Autoren: Diana W. Jones
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Kapitel 1

    Ich kann ebensogut mit einigen von unseren Großen Geheimnissen beginnen, weil dieser Bericht für den Uneingeweihten sonst nicht leicht zu verstehen sein wird.
    Im gesamten Multiversum ist das Symbol für Unendlichkeit oder Ewigkeit eine liegende Acht. Nicht zufällig, repräsentiert sie doch exakt die zwiefältige Natur der Welten im Bann eines zum Möbiusschen Band verschlungenen, also endlosen Spiralnebels. Man sagt, ihre Zahl sei unendlich und daß täglich mehr hinzukommen. Doch es heißt auch, Kaiser Koryfos der Große habe - wie, das vermag niemand zu erklären - durch seine Eroberungen von Minderwärts nach Mehrwärts diesen Schwarm von Welten geschaffen.
    Jedem steht es frei, sich die ihm genehme Theorie auszusuchen, je nachdem, ob einem das Konzept sich unendlich vermehrender Welten zusagt oder man ihre Zahl für stabil halten möchte. Ich persönlich habe bisher keine Entscheidung getroffen.
    Zwei Tatsachen allerdings sind unumstößlich: eine Hälfte dieser Acht aus Planeten ist magisch negativ oder Minderwärts und die andere Hälfte magisch positiv oder Mehrwärts; und das Reich Koryfos’, auf dem Kreuzungspunkt in der Mitte gelegen, führt bis heute die Lemniskate als kaiserliches Wappen.
    Dieses Symbol ist allerorten im Reich zu finden; man sieht es noch häufiger als Standbilder von Koryfos dem Großen. Ich muß es wissen. Vor ungefähr einem Jahr wurde ich in die Reichshauptstadt Iforion gerufen, um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Einige sehr alte Gesetze verlangten die Anwesenheit eines Magids - andererseits bin ich sicher, daß man gut ohne mich ausgekommen wäre, und ich hätte gern verzichtet. Das Kaiserreich Koryfos ist mir von meiner gesamten Klientel am wenigsten lieb, doch es wird nun einmal traditionell vom jüngsten Magid von der Erde betreut, und genau den Status hatte ich zu der Zeit inne. Außerdem war ich müde. Ich war erst tags zuvor aus Am erika zurückgekommen, wo ich es fast im Alleingang geschafft hatte, die richtigen Leute zur Aufnahme von Friedensverhandlungen sowohl das ehemalige Jugoslawien als auch Nordirland betreffend zu bewegen. Doch all mein Stolz und meine Freude darüber verpufften, als ich die Vorladung entdeckte. Seufzend legte ich die vorgeschriebenen purpurnen Bänder und elfenbeinfarbenen Brokatgewänder an und ging, um meinen Platz im Gericht einzunehmen.
    Mein erster mürrischer, vom Jetlag beeinflußter Gedanke war: Weshalb benutzen sie nicht einen der schöneren Räume? Einige Flügel des weitläufigen kaiserlichen Palastes wurden vor mehr als tausend Jahren errichtet, und manche der alten Säle und Hallen sind wahrhaft prachtvoll. Diese Verhandlung jedoch fand in einem Raum der jüngeren Bauphase statt, ausgestattet mit einer streng nach Holzlasur riechenden Vertäfelung, kahl und kastenförmig und ohne Flair. Und die hölzernen Bänke waren die reinsten Folterinstrumente. Die Lemniskate - grell golden bemaltes Hochrelief - bohrte sich in meine Schultern, gleißte an den Wänden und an dem für Seine Majestät bestimmten ausladenden Holzsessel. Ich erinnere mich, daß ich gereizt den Blick auf die Statue des Koryfos’ in der Ecke richtete. Sie war ebenfalls neu und aufdringlich vergoldet, doch eins konnte man nicht leugnen: Der alte Knabe hatte Persönlichkeit. Obwohl die Statuen immer die gleichen sind und immer idealisiert, wußte man sofort, es handelte sich um das Abbild eines wirklichen Menschen. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, ein wenig wie Alexander der Große, und trug ein vages, vorsichtiges Lächeln zur Schau, das ausdrückte: »Ich höre, was du sagst, aber ich werde trotzdem tun, was ich für richtig halte.« Man sah auf den ersten Blick, daß er stur wie der Teufel gewesen sein mußte.
    Ich weiß, daß ich mich gerade fragte, womit Koryfos die ihm entgegengebrachte Verehrung verdient haben mochte - immerhin ist er seit fast zweitausend Jahren tot, und während seiner Herrschaft war er meistens unterwegs, auf Eroberungszügen irgendwo; ungeachtet dessen gelten die zwanzig Jahre seiner Regierung als das >Goldene Zeitalter< -, als der amtierende Kaiser den Raum betrat und wir uns zur Begrüßung erheben mußten. Dieser Nachfahre des großen Koryfos war ein gänzlich anderer Typ, schmächtig, unscheinbar und sauertöpfisch. Man fragt sich, wie es möglich ist, daß gekrönte Häupter immer die schönsten Frauen gleich mehrerer Welten heiraten, und heraus kommt jemand wie Timos IX., dem man auf der Straße keinen
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