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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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Wollte mit den Bolschewisten aber nie was zu tun haben. Hab diese Herren negiert. Nur ihre Autobahn, die hab ich benutzt – oder besser: benutzen müssen! Wollte ja ab und zu mal rauskommen aus ihrer Umzingelung. Geflogen, nein, geflogen bin ich nie so gerne.«
    »Aber die Bolschewisten regieren doch immer noch«, bemerkte die Dame, um auch mal etwas zu sagen, »nur eben andere.«
    »Ja, ja.« Beruhigend tätschelte der so in sich und seiner Welt ruhende Herr ihr den Arm. »Doch nicht mehr lange! Die haben wir nun im Sack. Wir müssen ihn nur noch zuschnüren.«
    Der berühmte reiche Vetter aus dem Westen! Der Kudamm-Onkel! Einer von denen, die in ihrer Stadthälfte gelebt hatten, als läge der Ostteil ihrer Heimatstadt irgendwo hinter der Milchstraße. Mit ihrer Arroganz und Überheblichkeit hatten sie der SED-Führung jahrzehntelang in die Hände gespielt; nie hatten sie die Mauer akzeptiert, aber immer noch ein paar Steine draufgelegt.
    »Komm!« Hannah zog Lenz weiter. »Wir leben in einer Demokratie, da darf jeder sagen, was er denkt.«
    Die Linden entlang in Richtung Alexanderplatz, ein Spaziergang ins Weißt-du-noch.
    Kaum eine Straßenecke, mit der Lenz keine Erinnerung verband. Als Kind war er ein großer Stadtwanderer gewesen. Wie viele Straßen hatte er damals abgeklappert, mal mit dem einen Freund, mal mit einem anderen. Und hatte dabei seine Stadt, ohne dass er es wusste, nicht nur kennen-, sondern lieben gelernt. Beide Hälften! Bis zum Mauerbau hatte er es sogar genossen, in einer Stadt, gleichzeitig aber in zwei Welten zu leben. Alles gab es doppelt, die Kinos, in denen sehr unterschiedliche Filme liefen, die Theater, die sehr unterschiedliche, manchmal aber auch nur unterschiedlich interpretierte Stücke aufführten, und die entweder ost- oder westgepolten Rundfunk- und Fernsehprogramme, Zeitschriften, Zeitungen und Bücher. Wer nicht mit einer östlich oder westlich gefärbten Brille herumlaufen, sondern sich eine eigene Meinung bilden wollte, der konnte es tun.
    Wenn ihm zu jener Zeit an dieser Doppelwelt etwas missfiel, dann war es allein das Vorzeichen »Ost«. Weil es negativ besetzt war, obwohl es doch eigentlich nur eine Himmelsrichtung bezeichnete. »West« klang gut, »Ost« stand für Unterlegensein. Ost-Zigaretten, Ost-Schuhe, Ost-Kleidung, Ost-Filme konnten nicht konkurrieren mit West-Zigaretten, West-Schuhen, West-Klamotten, West-Filmen, Ostgeld nicht mit Westgeld und ein Ostler nicht mit einem Westler. Der eine hatte Schlechteres und weniger, der andere Besseres und mehr davon. Der eine war froh, wenn er in den Ferien an die Ostsee oder nach Thüringen fahren durfte, der andere schickte knallbunte Ansichtskarten aus Italien oder Spanien. Ein Westler trug einfach ein viel höheres Gütezeichen auf der Stirn.
    Er musste erst erwachsen werden, um zu erkennen, dass es im Leben noch andere, bedeutsamere Werte gab und allein der Konsum oder weite Reisen denkenden Menschen kein erfülltes Leben garantierte. So manch einer aber hatte aus Trotz gegen dieses ewige Unterlegensein ein ausgeprägtes Ost-Selbstbewusstsein entwickelt, lehnte alles Westliche als dekadent und hohl ab und gewann auf diese Weise ein ganz eigenes Überlegenheitsgefühl. Wir, die klügeren, fortschrittlicheren, sozialer denkenden Deutschen, sagte er sich, benötigen diesen Glitzerkram gar nicht. Wer aber so dachte, das war absehbar, würde es in naher Zukunft besonders schwer haben.
    Am Abend des Mauerfalls, noch auf Staatsbesuch in Warschau, hatte Kanzler Kohl beim Umtrunk mit Journalisten eine sehr interessante Äußerung getan. Jetzt, da die Mauer gefallen sei, so seine Worte, würden bald auch die Ostdeutschen auf der Sonnenseite der Geschichte leben. Worte, die nach »bester aller denkbar möglichen Welten« klangen. Was aber war mit jenen im Osten, die ihre Seite für die sonnigere hielten und nicht hinüberwechseln wollten in den kapitalistischen Schatten? Oder mit denen, die keinen Umbruch, sondern nur einen Aufbruch wünschten, weil sie sahen, dass die größeren Mängel des eigenen Systems ja nur die kleineren, aber auch nicht unerheblichen des anderen verdeckten? Der Kapitalismus das Erfolgsmodell der Zukunft? Wer gegen das Regime der Zaunkönige war, musste nicht unbedingt ein Freund westlicher Werte sein.
    Für Lenz jedoch stand fest: Eine »runderneuerte« DDR war ein Trugbild, geboren aus sehr verständlichen Wünschen, aber nicht realisierbar, weil dieser Staat ohne Kalten Krieg gar keine Berechtigung
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