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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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»Als drauf vom Ermorden die Händ’ ihm starreten,
wählt’ er annoch zwölf lebende Jüngling’ im Strome;
Abzubüßen den Tod des Menötiaden Patroklos.«
    Homer, Ilias
    Er stinkt! Oder sollte ich besser sagen
sie
– die Leiche? Oder ist das, was von Josef Anders übrig ist, nämlich ein ekliger, stinkender Haufen Fleisch, Fett und Haut, nicht mehr menschlich, nicht mehr personifizierbar, nicht mehr wert einen Namen zu tragen und daher schlichtweg ein Es? Ja, ich glaube, das trifft es am ehesten. Er war sein ganzes Leben lang nicht viel mehr als das. Ein Ding, ein Tier, ein Etwas.
    Es ist so schrecklich widerlich! Der fette, von der Verwesung aufgequollene Leib ist voller Blasen. Jedes Mal, wenn ich den Körper bewege, platzen einige von ihnen auf und lassen ihren ranzigen, gelblich-grünen Inhalt in dünnen Rinnsalen auslaufen. Kleine stinkende Bäche ergießen sich über die faulige, von einem lilafarbenen Aderngeflecht durchzogene Haut. Ich möchte kotzen!
    Sein Innerstes dringt nach außen und offenbart das wahre Ich von Josef Maximilian Anders. Hier und jetzt kann er endlich er selbst sein. Der richtige, der echte Josef zeigt sich mir, rinnt aus seiner Hülle, seiner Fassade heraus. Genauso war sein Leben: geplatzte Träume, die nichts hinterließen als ekligen Schleim, Gestank und einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge.
    Es war eine Wohltat, ihn von seinem Siechtum zu erlösen, ihn zu befreien von dem Elend seines kranken Lebens, für das es keine Heilung mehr gab. Sein Todesurteil war schon vor langer Zeit gefällt worden, noch bevor ich den Entschluss fasste, ihn zu töten.
    Wenn ich meine Augen schließe, kann ich ihn direkt vor mir sehen – wie er am Boden lag und schrie, heulte und flehte. Verzweifelt versuchte er, sein Leben zu retten, bettelte auf Knien, winselte und wand sich wie ein Wurm. Ja, so kam er endlich zum Vorschein – der wahre Josef. Nichts war mehr übrig von dem angesehenen, erfolgreichen Geschäftsmann. Vorbei war es mit dem süffisanten Lächeln, dem eleganten Auftreten und dem Schein, alles im Griff zu haben.
    Der gute alte Joe! Wie ein Schwein hat er gequiekt, als mein Messer in ihn eindrang. Diese Drecksau! Geschlachtet zu werden, war der einzige Tod, der zu ihm passte!
     
    Wenn doch nur dieser Gestank nicht wäre. Es scheint mir, als würde sein Todesgeruch versuchen, überall in mich einzudringen. So als würde Josefs Körper, in einem letzten, verzweifelten Versuch einen Teil von sich zu retten, probieren, sich mit dem meinen zu vermengen. So als würde er versuchen, ein Konglomerat aus Körperlichkeit herzustellen – Urin, Kot, Blut, Sperma, Schweiß und Speichel.
    Heute ist der perfekte Tag für die Offenbarung. Es war gut, so lange abzuwarten. Hoffentlich werden die dummen Ignoranten da draußen dieses Mal endlich ihre Augen öffnen und verstehen. Sie müssen es endlich begreifen. Sie müssen das Zeichen richtig deuten. Es ist ihre einzige Chance!
     
    Es ist schwierig, die Reste von Josef zu transportieren. Seit die Leichenstarre nachgelassen hat, ist sein Körper so schlaff und schwer wie ein nasser Sack. Sein Penis hängt klein und verschrumpelt
zwischen seinen feisten Schenkeln. Na, Joe? Wo ist sie jetzt, deine vielgepriesene Männlichkeit?
    Josef war schon immer ein Koloss, doch der Tod, so scheint es, hat die gesamte Last seines Lebens tausendfach auf ihm abgelegt, anstatt sie von ihm zu nehmen.
    Dieser widerliche, teigige Haufen ist alles, was von Josef geblieben ist, und bald wird es nicht einmal mehr das sein. Nachdem sich die Würmer und Maden mit seinem übelriechenden Fleisch ihre Bäuche vollgeschlagen haben, wird nichts mehr von ihm übrig sein außer ein paar schmutzigen Knochen.
    Ich schleppe, ziehe, schiebe und stoße den geschundenen Leib. Ächze, stöhne und schwitze unter seinem Gewicht. Ich frage mich, was schlimmer ist, die Schändung eines Toten oder die Schande eines Lebenden?
    Gleich ist es so weit. Gleich werde ich sie los sein, die stinkende, tropfende Masse, die früher einmal Josef Anders war. Endlich werde ich frei von dieser Bürde sein. Ich kriege kaum mehr Luft. Ist es die Anstrengung? Der beißende Geruch? Oder doch die Angst, dass mein Plan schiefgehen könnte?
    Ich darf nicht scheitern! Nichts darf fehlschlagen! Alles muss klappen! Es ist der richtige Zeitpunkt, und vor allem ist es die einzige Möglichkeit, die Menschen da draußen zu retten.
    Gleich habe ich es geschafft. Gleich bin ich befreit. Ich wünschte, es wäre schon
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