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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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Bett. In der Woche vor ihrer Einlieferung konnte meine Mutter keine Nahrung mehr bei sich behalten, und als ich eintraf, enthielt der Kühlschrank fast nur noch uralte Würzsoßen und Delikatessen. Im obersten Fach standen eine Tüte Magermilch, eine kleine, mit Folie abgedeckte Dose grüne Erbsen und, neben dieser Dose, eine Schüssel mit einem Löffel voll Erbsen. Die Schüssel mit den Erbsen traf mich hinterrücks und hätte mich fast umgeworfen. Sie nötigte mich, mir vorzustellen, wie meine Mutter allein im Haus war und sich zwang, etwas zu essen, und sei es nur einen Löffel Erbsen, und schließlich merkte, dass es nicht ging. Genügsam und zuversichtlich,wie sie nun einmal war, hatte sie Dose und Schüssel in den Kühlschrank gestellt, für den Fall, dass ihr Appetit wiederkam.
    An meinem allerletzten Tag im Haus, ein Vierteljahr später, erledigte ich mit einem meiner Brüder letzte Reparaturen und packte meine alten Habseligkeiten zusammen. In der Woche davor hatten wir zwölf oder vierzehn Stunden täglich gearbeitet, und ich packte wie ein Wilder, bis ich am Ende einen Mietlaster bestellte. Ich hatte nicht die Zeit, etwas Besonderes zu empfinden, abgesehen von der Freude, dass die Kartons beschriftet und im Laster verstaut waren, und dann war es plötzlich Zeit zum Aufbruch. Ich ging meinen Bruder suchen, um mich von ihm zu verabschieden. Zufällig kam ich an meinem alten Zimmer vorbei, blieb im Flur stehen, um hineinzuschauen, und in dem Moment kam es mir in den Sinn, dass ich
dieses Zimmer nie wieder sehen würde
; ein tiefer Schmerz brandete in mir auf. Ich rannte, schwer durch den Mund atmend, nicht gut sehend, die Treppe hinab. Ich schlang die Arme um meinen Bruder und rannte, rannte einfach nur aus dem Haus und sprang in den Laster und fuhr zu schnell die Einfahrt hinunter, wobei ich in meiner Eile, auf die Straße zu kommen, von einem Baum einen Ast abriss. Ich glaube, da schloss ich wirklich damit ab. Ich glaube, das implizite Versprechen, das ich mir an jenem Nachmittag gab und das ich gebrochen hätte, wenn ich an diesem Tag wieder in das Haus gegangen wäre, war, dass ich zum letzten Mal gegangen war und niemals wieder würde gehen müssen.
    Versprechen hin, Versprechen her. Ich brause zum Flughafen.
     
    (2001)

Tag der Amtseinführung, Januar 2001
    V or ein paar Samstagen wären vielleicht auch Sie mangels besserer Alternativen um halb sechs aufgestanden, hätten Seidenschal und Kaschmirmantel im Schrank hängen lassen, die ausgelatschten Red Wings und mehrere Lagen altes Wollzeug angezogen und wären mit dem Taxi zum Harlem State Office Building in der 125 th Street gefahren, wo zwanzig Jungsozialisten, eine Schar mitreisender Studenten der jesuitischen Fordham-Universität und zwei verirrte Barnard-College-Studentinnen älteren Semesters, die die Nacht im Village Idiot durchzecht hatten, auf ihre Beförderung nach Washington warteten.
    Als die Beförderungsmittel kamen, ziemlich spät, stellte sich heraus, dass es zwei uralte gelbe Schulbusse waren. David Schmauch, ein Mitglied der Harlemer Ortsgruppe der International Socialist Organization, war der Verantwortliche der Unternehmung. Schmauch, der einem glattrasierten Kenneth Branagh ähnelt, trug Duck Boots, einen Nylon-Parka und eine dämliche Strumpfmütze. Er hatte aus eigener Tasche fünfzehnhundert Dollar für die Busse bezahlt und nicht annähernd genügend Fahrkarten verkauft, um die fünfzehnhundert Dollar wieder hereinzubekommen. Ein Kontingent Sympathisanten, sagte er, habe gekniffen, als sie erfahren hätten, dass es in den Bussen keine Toilette gebe. Vielleicht wären Sie versucht gewesen, über diesen Einwand, diese bourgeoise Zimperlichkeit die Nase zu rümpfen, aber wenn Ihr sehr langsamer Bus, verlangsamt noch von Regen und Nebel, bei jeder Raststätte am New Jersey Turnpike eine Pinkelpause eingelegt hätte – und jede Pinkelpause zu einer Zigarettenpause samt ausgedehnter Imbissgelegenheit ausgeweitet worden wäre   –, dann hätten auch Sie sich vielleicht einen Reisebus mit mehr Komfort gewünscht.
    Andererseits hätten Sie, je länger Sie in einem warmen, trockenen Bus Ihren
Socialist Worker
hätten lesen können, desto weniger lang im Matsch am Stanton Square hinter dem Obersten Gerichtshof zu stehen brauchen, wo der einzige Regenschutz von haschverqualmten Dixieklos und dem mit Plastikplanen verkleideten Unterstand geboten wurde, in dem die Redner vor Reverend Al Sharpton in einem Meer von vier- oder fünftausend
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