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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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Singe mir, Muse …
    Von Athene und der Erfindung der Flöte – Von Marsyas
und Apoll – Von Orpheus und Eurydike – Von
eifersüchtigen Frauen – Von einem träumenden
Hirtenknaben
     
     
    Sollen wir bei der Schöpfungsgeschichte beginnen, also wie Himmel und Erde aus dem Chaos entstanden? Weiter zurückgreifen läßt sich nicht, denn im Chaos war nichts, wovon man berichten könnte. Es läge nahe, beim Anfang zu beginnen, also an dem Punkt oder Zeitpunkt oder wie man diesen Moment nennen will, an dem es dem Ungeteilten gefiel, sich zu teilen. – Wir tun es nicht. Wir werden von der Schöpfungsgeschichte erst später erzählen. Für uns stehen am Beginn nämlich nicht Chaos und Ursprung, sondern die Sänger, die uns all diese Geschichten erzählen, auch die Geschichte von der Entstehung der Dinge und der Götter und der Menschen. Deshalb will ich den Anfang den Sängern geben.
    Ich möchte zunächst von einem kleinen, unbeachteten Musikanten erzählen, nämlich vom unglücklichen Satyr Marsyas. Und diese Geschichte fängt bezeichnenderweise nicht mit diesem komisch-wunderlichen Waldwesen an, sondern mit der ebenso prominenten wie gestrengen Göttin Pallas Athene.
     
    Die Göttin Pallas Athene streifte einst durch die Wälder und fand einen Doppelknochen – ich weiß nicht, was genau darunter zu verstehen ist –, einen von Ameisen ausgehöhlten und gesäuberten Doppelknochen, und in diesen Doppelknochen bohrte sie Löcher, und da war er eine Flöte. Manche behaupten, Athene habe damals die Flöte erfunden. Die Sagen liefern uns ja oft die Entstehungsgeschichte der Dinge, die uns umgeben, wie diese Dinge gegründet, erfunden, gefunden wurden. Bei der besagten Doppelrohrflöte ist zu bemerken, daß sie mit unserer heutigen Flöte nicht zu vergleichen ist. Man muß sich ein Rohr vorstellen, in das ein Blatt geklemmt ist, das in Schwingung gerät, wenn es angeblasen wird, und einen quäkenden Ton von sich gibt, der dann durch Manipulation der beiden Flötenschächte moduliert wird. Aulos wurde das Instrument genannt, und der Aulos war mindestens soviel ein Vorläufer des Dudelsacks wie unserer Blockflöte. Nicht gerade das edelste der Instrumente, und wir werden sehen, die große Pallas Athene konnte sich, zumindest was den Instrumentenbau betrifft, mit ihrem Halbbruder Hermes nicht vergleichen.
    Jedenfalls wollte Athene ihre Erfindung oben im Olymp den versammelten Göttern vorführen. Sie setzte sich hin und begann auf dem Aulos zu spielen. Es muß ohne Zweifel eine wunderbare Musik gewesen sein, eine göttliche Musik eben. Und dennoch: Hera, die Göttermutter, die Schwester und auch Gattin des Zeus, und Aphrodite, die Göttin der Liebe, sie drehten sich weg und begannen zu tuscheln und zu kichern. Athene war etwas verwirrt und fragte: »Was ist denn los? Spiele ich nicht richtig?« – Sie bekam aber keine Antwort. Nun, dachte sie, es kann ja nicht nur an den anderen liegen, vielleicht liegt es an mir. Im Gegensatz zu den meisten anderen Göttern war sie zu der eigentlich ganz ungöttlichen Eigenschaft der Selbstkritik durchaus fähig. Sie flog zur Erde hinunter, suchte sich einen klaren Gebirgssee, beugte sich über die Wasserfläche und spielte dasselbe Lied noch einmal, diesmal nur für sich. Und betrachtete, während sie spielte, ihr Spiegelbild. Und nun wußte sie auch, warum Hera und Aphrodite gekichert hatten. Ihr Spiegelbild zeigte ein aufgedunsenes, angestrengtes, bläulich-rot angelaufenes Gesicht, die Augen waren zusammengedrückt, die Nasenflügel unappetitlich gebläht. Die Musik klang zwar wunderschön, aber sie machte den Musikanten häßlich. Und Athene wußte, mit dieser Erfindung konnte sie nirgends großtun, das Spiel auf dem Aulos war nichts für sie, vielleicht überhaupt nichts für Frauen, es machte sie abstoßend.
    Sie warf die Flöte hinter sich und nicht nur das, sie heftete an die Flöte zusätzlich noch einen Fluch. Sie sagte: »Wer auch immer diese Flöte spielen wird, es soll Unglück über ihn kommen.«
    Und nun kam dieser unglückselige Satyr Marsyas des Weges, ein Kobold, ein harmloser Waldbewohner, nicht sehr klug, aber rundum zufrieden mit sich selbst. Und er stolperte über die Flöte, und er sagte sich: »Na gut, wenn ich schon darüber stolpere, dann soll sie mir auch dienen.«
    Und er begann darauf zu spielen. Er hatte keine Ahnung von Musik und keine Ahnung von der Handhabung dieses Instruments. Aber siehe da, aus der Flöte kamen wie von selbst wunderbare, weil eben
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