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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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eine halbe Billion Dollar für eine Datenautobahn bereitzustellen, deren Befürworter im Hinblick auf die Verheerungen, die das beim Lesen anrichten würde («Sie müssen sich eben daran gewöhnen, am Bildschirm zu lesen»), Lippenbekenntnisse ablegten, ihre Gleichgültigkeit dem gegenüber aber nicht verbergen konnten.
     
    Da schon ein bisschen davon tief blicken lässt, habe ich meine schriftstellerische Freiheit genutzt, den Essay um ein Viertel zu kürzen und ihn gründlich zu überarbeiten. (Auch habe ich ihn in «Wozu der Aufwand?» umbenannt.) Obwohl er noch immer sehr lang ist, hoffe ich, dass die Lektüre jetzt weniger strapaziös und die Argumentation schlüssiger ist. Zumindest möchte ich darauf zeigen und sagen können: «Sehen Sie, die These ist doch wirklich ganz klar und einfach, genau wie ich es gesagt habe!»
    Was für den
Harper’s
-Essay gilt, gilt für die vorliegende Sammlung als Ganzes. Ich möchte, dass dieses Buch in Teilen das Dokument einer Entwicklung ist: von einer zornigen und angstbestimmten Isolation hin zur Akzeptanz – gar dem Lobpreis – dessen, sowohl ein Lesender als auch ein Schreibender zu sein. Nicht dass es nicht noch vieles gäbe, das einen wütend undängstlich machen könnte. Der Durst unserer Nation nach Öl, der uns schon zwei Präsidenten namens Bush und einen hässlichen Golfkrieg beschert hat, droht, uns in einen Langzeitkonflikt im Mittleren Osten zu verwickeln, dessen Ausgang ungewiss ist. Obwohl man es nicht für möglich gehalten hätte, scheinen die Amerikaner ihrer Regierung noch unkritischer gegenüberzustehen als 1991, und die Verlautbarungen der führenden Medien sind in ihrem Chauvinismus sogar noch monolithischer geworden. Während der Kongress erneut gegen die Einführung leicht umzusetzender Normen zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs von Geländewagen plädiert, kann man den Vorstandsvorsitzenden der Firma Ford in Fernsehspots ebendiese Fahrzeuge patriotisch verteidigen sehen, wobei er erklärt, die Amerikaner
dürften niemals
«irgendwelche Grenzen» akzeptieren.
    Angesichts so vieler Ungeheuerlichkeiten Tag für Tag habe ich mich bei den anderen Essays in dem Buch auf minimales Feilen beschränkt. «Die erste Stadt» liest sich ohne das World Trade Center ein wenig anders, «Riesenschlafzimmer» entstand, bevor John Ashcroft mit seiner offenkundigen Gleichgültigkeit gegenüber Persönlichkeitsrechten Justizminister wurde, die Aufregung um Milzbranderreger hat die Nöte mit der amerikanischen Post, beschrieben in «Auf dem Postweg verloren», weiter verschärft, und dass Oprah Winfrey mich aus ihrer Büchersendung ausgeladen hat, verleiht dem anschaulichen Wort «elitär» überall dort, wo es auftaucht, neuen Glanz. Die diversen Einzelaspekte sind für mich jedoch von geringerer Bedeutung als das all diesen Essays zugrunde liegende Thema: die Schwierigkeit, in einer lärmenden und zerstreuenden Massenkultur Individualität und Vielschichtigkeit zu bewahren: die Frage, wie Alleinsein geht.
     
    (2002)

Das Gehirn meines Vaters
    E ine Erinnerung. An einem trüben Vormittag im Februar 1996 bekam ich von meiner in St.   Louis lebenden Mutter mit der Post ein Valentinspäckchen, das eine kitschig pinkfarbene Grußkarte, zwei 10 0-Gramm -Schokoladenriegel Mr.   Goodbars, ein hohles rotes Filigranherz an einer Fadenschlinge und eine Kopie des neuropathologischen Berichts der Gehirnautopsie meines Vaters enthielt.
    Ich erinnere mich noch an das hellgraue Winterlicht jenes Vormittags. Ich erinnere mich, wie ich die Süßigkeiten, die Karte und das Zierherz im Wohnzimmer liegenließ und mit dem Autopsiebericht ins Schlafzimmer ging, mich dort hinsetzte und ihn las.
Das Gehirn
(so begann er)
wog 1255g und wies eine parasagittale Atrophie mit Erweiterung der Sulci auf
. Ich erinnere mich, wie ich Gramm in Pfunde und Pfunde in die vertrauten vakuumverpackten Äquivalente in einer Supermarktfleischtruhe umrechnete. Ich erinnere mich, dass ich, statt weiterzulesen, den Bericht zurück in den Umschlag schob.
    Einige Jahre vor seinem Tod hatte mein Vater an einer von der Washington University gesponserten Studie über Gedächtnis und Altern teilgenommen, und eine der Vergütungen für die Teilnehmer bestand in einer kostenlosen Gehirnautopsie nach dem Tod. Vermutlich wurden weitere Vergütungen in Form von Gesundheitschecks und Behandlungen gewährt, die meine Mutter, die Gratisgaben aller Art liebte, veranlasst hatten, meinen Vater zu drängen, sich dafür zur
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