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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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sogar zweihundert, mit Billionen Axonen und Dendriten, die vermöge wenigstens fünfzig verschiedener chemischer Transmitter Quadrillionen von Botschaften austauschen. Das Organ, mit dem wir das Universum sehen und ihm einen Sinn geben, ist mit komfortablem Vorsprung der komplexeste Gegenstand, den wir in diesem Universum kennen.
    Und dennoch ist es auch ein Klumpen Fleisch. Irgendwann, vielleicht noch an jenem Valentinstag, zwang ich mich dazu, den gesamten pathologischen Bericht zu lesen. Er beinhaltete auch eine «Mikroskopische Beschreibung» des Gehirns meines Vaters:
     
    Teile der frontalen, parietalen, okzipitalen und temporalen Großhirnrinde wiesen vielerorts senile Plaques von vorherrschend diffusem Typus auf, dazu eine minimale Anzahl neurofibrillärer Knäuel. Im HE-gefärbten Gewebe fanden sich zahlreiche Lewy-Bodys. Die Amygdala wies Plaques, vereinzelte Fibrillen und eine leichte Minderung der Neuronendichte auf.
     
    In der Todesanzeige, die wir neun Monate zuvor in den Lokalzeitungen aufgegeben hatten, schrieben wir auf Drängen meiner Mutter, mein Vater sei «nach langer Krankheit» gestorben. An der Wendung mochte sie das Förmliche und Verhaltene, doch es fiel schwer, nicht auch ihren Groll herauszuhören, die Betonung auf
lang
. Dass der Pathologe im Gehirn meines Vaters senile Plaques entdeckt hatte, bestätigte, wie es nur eine Autopsie vermochte, einen Umstand, mit dem sie sich viele Jahre lang tagtäglich gequält hatte: Wie Millionen anderer Amerikaner hatte mein Vater Alzheimer.
    Das war seine Krankheit. Es war, könnte man sagen, auch seine Geschichte. Aber Sie müssen sie mich schon erzählen lassen.
     
    Alzheimer ist eine Krankheit mit einem klassischen «heimtückischen Ausbruch». Da auch Gesunde mit zunehmendem Alter vergesslicher werden, ist es unmöglich, die erste Erinnerung zu bestimmen, die ihr zum Opfer fällt. Im Falle meines Vaters war das Problem besonders leidig, da er nicht nur depressiv und reserviert und ein wenig taub war, sondern auch starke Medikamente gegen andere Beschwerden nahm. Lange Zeit konnte man seine unlogischen Antworten seiner Hörschwäche, seine Vergesslichkeit seinen Depressionen, seine Halluzinationen seinen Medikamenten ankreiden; und das taten wir ja auch.
    Meine Erinnerungen an die Jahre des beginnenden Niedergangs meines Vaters kreisen lebhaft um alles Mögliche, nur nicht um ihn. Ich bin sogar einigermaßen entsetzt darüber, wie viel ich selbst darin vorkomme und wie wenig meine Eltern. Doch in jenen Jahren lebte ich weit weg von zu Hause. Meine Informationen stammten im Wesentlichen aus den Klagen meiner Mutter über meinen Vater, und diese Klagen hörte ich mir mit einem gewissen Vorbehalt an; praktisch mein ganzes Leben lang hatte sie sich bei mir beklagt.
    Die Ehe meiner Eltern war, so viel kann ich wohl sagen, alles andere als glücklich. Sie blieben wegen ihrer Kinder zusammen und mangels Hoffnung, dass eine Scheidung sie glücklicher werden ließe. Solange mein Vater arbeitete, regierten sie in ihren jeweiligen Reichen Haushalt und Beruf weitgehend autonom, doch nachdem er 1981, mit sechsundsechzig Jahren, pensioniert wurde, inszenierten sie in ihrem behaglich eingerichteten Vorstadtheim eine Endlosaufführung von
Geschlossene Gesellschaft
.Meine Kurzbesuche glichen Einsätzen einer Friedenstruppe der UN, der sie beide leidenschaftlich ihre Argumente gegeneinander vortrugen.
    Anders als meine Mutter, die in ihrem Leben nahezu dreißigmal im Krankenhaus gewesen war, erfreute sich mein Vater bis zu seiner Pensionierung bester Gesundheit. Seine Eltern und Onkel waren achtzig, neunzig Jahre alt geworden, und er, Earl Franzen, hatte die Erwartung, mit neunzig auf jeden Fall noch da zu sein, «um mitzukriegen», wie er gern sagte, «was noch alles wird». (Sein anagrammatischer Namensvetter Lear stellte sich seine letzten Jahre ganz ähnlich vor: mit Cordelia «vom Hofe plaudern», um mitzukriegen, «wer da gewinnt, verliert, wer in, wer aus der Gunst» ist.) Mein Vater hatte keine Hobbys und abgesehen vom Essen, den Besuchen seiner Kinder und Bridgepartien wenig, was ihm Freude bereitete; allerdings hatte er am Leben ein
episches
Interesse. Er sah eine gewaltige Menge Nachrichten im Fernsehen. Es war sein Bestreben, im Alter die sich entwickelnden Geschicke der Nation wie auch seiner Kinder zu verfolgen, solange er nur konnte.
    Das Passive dieses Bestrebens und die Gleichheit seiner Tage trugen dazu bei, ihn für mich unsichtbar zu machen. Von
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