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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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auf eine alte Deutsche, für die ich einmal als Jugendlicher gearbeitet hatte.
     
    Ich erinnere mich an meinen Argwohn und meine Verärgerung vor fünfzehn Jahren, als der Begriff «Alzheimer-Krankheit» allgemein gebräuchlich wurde. Ich sah darin ein weiteres Beispiel für die Pathologisierung des Menschseins, den neuesten Eintrag in die sich unablässig erweiternde Nomenklatur des Opfertums. Auf die Berichte meiner Mutter über meine alte Arbeitgeberin antwortete ich: «Was du da beschreibst, klingt mir ganz nach der Erika, wie sie ohnehin schon war, nur um einiges schlimmer, aber das sind doch noch nicht die Auswirkungen von Alzheimer, oder? Jeden Monat rege ich mich ein paar Minuten darüber auf, dass eine normale Geisteskrankheit modisch und falsch als Alzheimer diagnostiziert wird.»
    Von meiner heutigen Warte aus verstehe ich, der ich mich jeden Monat ein paar Minuten darüber aufrege, was für ein selbstgerechter Dreißigjähriger ich mal war, mein Widerstreben, den Begriff «Alzheimer» auf meinen Vater anzuwenden, als Versuch, das Besondere des Earl Franzen vor dem Allgemeinen eines benennbaren Befunds zu schützen. Befunde haben Symptome; Symptome verweisen auf die organische Grundlage von allem, was wir sind. Sie verweisen auf das Gehirn als Klumpen Fleisch. Und wo ich eigentlich akzeptieren sollte, ja, das Gehirn ist ein Klumpen Fleisch, bewahre ich mir offenbar einen blinden Fleck, über den ich dann Geschichten lege, die die seelenartigeren Aspekte des Ichs betonen. Meinen leidenden Vater als Bündel organischer Symptome zu sehen würde mich dazu verleiten, den
gesunden
Earl Franzen (und mich) ebenfalls in symptomatischen Kategorien zu sehen – unsere geliebte Persönlichkeit auf eine endliche Reihe neurochemischer Koordinaten zu reduzieren. Wer will schon so eine Lebensgeschichte?
    Noch jetzt ist mir unwohl, wenn ich Fakten über Alzheimer zusammentrage. Lese ich beispielsweise David Shenks Buch
The Forgetting: Alzheimer’s: Portrait of an Epidemic
, werde ich daran erinnert, dass mein Vater, wenn er sich in seinem eigenen Viertel verliefoder auf der Toilette zu spülen vergaß, Symptome zeigte, die mit denen Millionen anderer an Alzheimer Erkrankter identisch sind. Es kann etwas Tröstliches haben, in so großer Gesellschaft zu sein, aber ich sehe mit Bedauern, wie bestimmten Irrtümern meines Vaters, etwa seiner Verwechslung meiner Mutter mit ihrer Mutter, die mir damals singulär und mystisch vorkam und aus der ich alle möglichen neuen Erkenntnisse über die Ehe meiner Eltern ableitete, die individuelle Bedeutung abgesprochen wird. Meine Vorstellung von der eigenen Persönlichkeit stellte sich als Illusion heraus.
    Senile Demenz gibt es, seitdem Menschen die Mittel haben, sie zu dokumentieren. Solange die durchschnittliche Lebensspanne des Menschen kurz war und hohes Alter vergleichsweise selten, galt Senilität als natürliche Begleiterscheinung des Alterns – vielleicht als Ergebnis von Arteriosklerose im Gehirn. Der junge deutsche Neuropathologe Alois Alzheimer glaubte, Zeuge einer völlig neuen Spielart der Geisteskrankheit zu sein, als er 1901 eine einundfünfzigjährige Frau in seine Klinik aufnahm, Auguste D., die an bizarren Stimmungsschwankungen und schwerem Gedächtnisverlust litt und bei Alzheimers Voruntersuchung problematische Antworten auf seine Fragen gab:
     
    «Wie heißen Sie?»
    «Auguste.»
    «Familienname?»
    «Auguste.»
    «Wie heißt Ihr Mann?»
    «Ich glaube   … Auguste.»
     
    Als Auguste D. vier Jahre später in einer Anstalt starb, bediente sich Alzheimer jüngster Fortschritte in Mikroskopie und Gewebefärbung und erkannte auf Objektträgern mit dem Gehirngewebe die verblüffende duale Pathologie ihrer Krankheit: zahllose klebrigaussehende Klümpchen, die «Plaques», und zahllose Neuronen, die von «Knäueln» aus Neurofibrillen umschlossen waren. Alzheimers Entdeckungen stießen bei seinem Förderer Emil Kraepelin, damals Doyen der deutschen Psychiatrie, der sich mit Sigmund Freud und dessen psycholiterarischen Theorien über die Geisteskrankheit wissenschaftlich aufs heftigste auseinandersetzte, auf großes Interesse. Für Kraepelin lieferten Alzheimers Plaques und Knäuel willkommene klinische Beweise für seine Behauptung, Geisteskrankheit sei im Wesentlichen organisch bedingt. In seinem Standardwerk
Psychiatrie
nannte er Auguste D.s Leiden
Morbus Alzheimer
.
    Sechzig Jahre nachdem Alois Alzheimer Auguste D. autopsiert hatte, wurde die Alzheimer-Krankheit
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