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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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weiterhin als medizinische Seltenheit ähnlich der Chorea Huntington geführt, obwohl Durchbrüche bei der Krankheitsprävention und -behandlung die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern um fünfzehn Jahre verlängerten. David Shenk erzählt die Geschichte einer amerikanischen Neuropathologin namens Meta Naumann, die Anfang der fünfziger Jahre das Gehirn von 210 an seniler Demenz Erkrankten autopsierte und in einigen wenigen sklerotische Arterien, bei der Mehrheit jedoch Plaques und Knäuel fand. Das war der hieb- und stichfeste Beweis, dass Alzheimer weitaus verbreiteter war als bis dahin angenommen; doch Naumanns Arbeit hatte anscheinend niemanden überzeugt. «Sie meinten, Meta redet Unsinn», erinnerte sich ihr Mann.
    Wissenschaftliche Kreise waren einfach noch nicht bereit, in Betracht zu ziehen, dass Altersdemenz mehr als nur eine Folge des Alterns sein könnte. Anfang der fünfziger Jahre waren «Senioren» noch keine ihrer selbst bewusste Größe, gab es noch nicht so viele der nun wie Pilze aus dem Boden schießenden Rentnersiedlungen in den warmen Staaten, keine gemeinnützigen Hilfsorganisationen für Menschen über 50, keinen Nachmittagstisch in Billigrestaurants; und diese gesellschaftliche Realitätspiegelte sich im wissenschaftlichen Denken wider. Erst in den siebziger Jahren war die Zeit reif für eine Neubewertung der Altersdemenz. Wie Shenk ausführt, «lebten um diese Zeit schon so viele Menschen so lange, dass Senilität nicht mehr als normal oder akzeptabel hingenommen wurde». 1974 verabschiedete der amerikanische Kongress ein Gesetz zur Erforschung des Alterns und gründete das National Institute on Aging, für das bald jede Menge Gelder bereitstanden. Ende der Achtziger dann, auf dem Höhepunkt meiner Verärgerung über den klinischen Begriff und seine jähe Allgegenwart, hatte Alzheimer den gleichen gesellschaftlichen und medizinischen Stellenwert erreicht wie Herzinfarkt oder Krebs – und es gab die entsprechenden Forschungsmittel, um das zu dokumentieren.
    Was mit Alzheimer in den siebziger und achtziger Jahren geschah, war nicht bloß ein diagnostischer Paradigmenwechsel. Die Anzahl von Neuerkrankungen ist rapide gestiegen. Da immer weniger Menschen durch einen Herzinfarkt umkommen oder an Infektionen sterben, erreichen mehr und mehr ein hohes Alter und werden dement. Alzheimer-Patienten in Pflegeheimen leben viel länger als andere Patienten, bei jährlichen Kosten von mindestens vierzigtausend Dollar pro Kopf; bis zu ihrer Einweisung bringen sie das Leben der Familienangehörigen, die mit ihrer Pflege betraut sind, zunehmend durcheinander. Schon heute haben fünf Millionen Amerikaner diese Krankheit, bis 2050 könnte die Zahl auf fünfzehn Millionen steigen.
    Da mit chronischen Erkrankungen so viel Geld zu machen ist, investieren Pharmaunternehmen fieberhaft in ihre hauseigene Alzheimer-Forschung, während staatlich finanzierte Wissenschaftler Patente nur nebenher anmelden. Doch da das Wesen der Krankheit verborgen bleibt (ein funktionierendes Gehirn ist nicht sehr viel zugänglicher als der Mittelpunkt der Erde oder der Rand des Universums), kann niemand sicher sagen, welche Wege der Forschung zu wirksamen Behandlungen führen werden. Allesin allem scheint unter den Wissenschaftlern der Glaube vorzuherrschen, dass, wer noch unter fünfzig ist, einigermaßen guten Mutes davon ausgehen kann, wirksame Medikamente gegen Alzheimer zu bekommen, wenn er sie eines Tages braucht. Andererseits sagten vor zwanzig Jahren viele Krebsforscher voraus, dass es im Lauf von zwanzig Jahren ein Heilverfahren gegen Krebs geben werde.
    David Shenk, der deutlich unter fünfzig ist, vertritt in
The Forgetting
allerdings den Standpunkt, ein Heilverfahren gegen senile Demenz könnte womöglich kein ungetrübter Segen sein. Beispielsweise schreibt er, eine besondere Auffälligkeit der Krankheit sei, dass die daran «Leidenden» mit fortschreitendem Verlauf oftmals immer weniger litten. Die Pflege eines Alzheimer-Patienten sei gerade deshalb so aufreibend repetitiv, weil der Patient das zerebrale Rüstzeug verloren habe, alles als Wiederholung zu erfahren. Shenk zitiert Patienten, die im Vergessen «etwas Wunderbares» sehen und von einer Steigerung ihrer sinnlichen Wahrnehmung berichten, da sie ein ewiges, vergangenheitsloses Jetzt bewohnen. Ist das Kurzzeitgedächtnis hin, weiß man nicht mehr, wenn man sich zu einer Rose beugt, um an ihr zu riechen, dass man an ebendieser Rose schon den ganzen
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