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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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Alzheimer-Krankheit, nachdem ich das Ausmaß der Katastrophe erst mal akzeptiert hatte, zu einem unerwartet willkommenen engeren Kontakt mit meiner Mutter. Ich lernte, was ich sonstvielleicht nicht gelernt hätte, dass ich mich fest auf meine Brüder verlassen konnte und sie sich auch auf mich. Und seltsam, obwohl mir meine Intelligenz und mein gesunder Menschenverstand und mein Selbstwertgefühl immer viel bedeutet hatten, merkte ich, dass ich, indem ich mit ansah, wie mein Vater alle drei verlor, immer weniger ängstlich davor war, sie irgendwann selber zu verlieren. Ich wurde allgemein etwas weniger ängstlich. Eine dunkle Tür ging auf, und ich merkte, dass ich in der Lage war, hindurchzugehen.
     
    Die fragliche Tür befand sich im dritten Stock des Barnes Hospital in St.   Louis. Ungefähr sechs Wochen nachdem meine Frau und ich meiner Mutter die Pflegekraft vermittelt hatten und in den Osten der USA zurückgefahren waren, überredeten mein ältester Bruder und die Ärzte meinen Vater, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen. Sinn der Sache war, die ganzen Medikamente aus seinem Blutkreislauf zu schwemmen und zu sehen, womit wir es eigentlich zu tun hatten. Meine Mutter half ihm bei der Einweisung und verbrachte den Nachmittag damit, ihm sein Krankenzimmer herzurichten. Als sie, um etwas zu Abend zu essen, ging, war er wie immer halb abwesend, aber kaum war sie zu Hause, bekam sie Anrufe aus der Klinik, erst von meinem Vater, der verlangte, sie solle kommen und ihn aus «diesem Hotel» abholen, dann von den Krankenschwestern, die berichteten, er sei aufsässig geworden. Als sie am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, war er außer sich – von Sinnen, vollkommen ohne Orientierung.
    Eine Woche später flog ich wieder nach St.   Louis. Meine Mutter brachte mich vom Flughafen direkt zum Krankenhaus. Während sie mit den Schwestern sprach, ging ich ins Zimmer meines Vaters; er lag im Bett, hellwach. Ich sagte hallo. Er gestikuliertewild, ich solle still sein, und winkte mich zu seinem Kissen. Ich beugte mich über ihn, worauf er mich heiser flüsternd bat, leise zu sprechen, weil «die mithörten». Ich fragte ihn, wer «die» seien. Er konnte es mir nicht sagen, doch er ließ die Augen furchtsam rollend durchs Zimmer schweifen, so als hätte er «die» eben noch überall gesehen und wäre nun verblüfft über «ihr» Verschwinden. Als meine Mutter in der Tür erschien, vertraute er mir, noch leiser, an: «Ich glaube, die sind in deine Mutter gefahren.»
    Meine Erinnerungen an die darauffolgende Woche sind im Wesentlichen ein Nebel, aus dem ein paar lebensverändernde Szenen herausragen. Ich ging täglich ins Krankenhaus und saß so viele Stunden bei meinem Vater, wie ich es aushalten konnte. Zu keinem Zeitpunkt reihte er zwei zusammenhängende Sätze aneinander. Die Erinnerung, die mir rückblickend am bedeutungsvollsten zu sein scheint, ist sehr eigenartig. Sie ist in ein traumähnliches, dämmriges Innenraumlicht getaucht, sie spielt sich in einem Krankenhauszimmer ab, dessen Schnitt und drangvolle Enge mir von jeder anderen Erinnerung her unbekannt sind, und sie kehrt wieder ohne die chronologischen Markierungen, die meine Erinnerungen normalerweise haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie aus jener ersten Woche bei meinem Vater im Krankenhaus stammt. Und dennoch weiß ich genau, dass es keine Erinnerung an einen Traum ist. Alle Erinnerungen sind, wie die Neurowissenschaftler sagen, in Wirklichkeit Erinnerungen an Erinnerungen, aber meistens kommen sie uns nicht so vor. Die aber schon. Ich erinnere mich, mich zu erinnern: Mein Vater im Bett, meine Mutter sitzt daneben, ich stehe an der Tür. Wir führen ein bedrückendes Familiengespräch, wahrscheinlich darüber, wohin wir meinen Vater bringen sollen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Mein Vater verabscheut dieses Gespräch, vielmehr den geringen Anteil, dem er folgen kann. Schließlich ruft er mit leidenschaftlicher Emphase aus, so als hätteer genug von diesem Unsinn: «Ich habe deine Mutter
immer
geliebt.
Immer
.» Und meine Mutter vergräbt das Gesicht in den Händen und schluchzt.
    Es war das einzige Mal, dass ich meinen Vater sagen hörte, er liebe sie. Bestimmt ist diese Erinnerung echt, weil die Szene mir schon damals ungeheuer bedeutungsvoll erschien, und dann schilderte ich sie meiner Frau und meinen Brüdern und baute sie in die Geschichte ein, die ich mir selbst über meine Eltern erzählte. In späteren Jahren, als meine
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