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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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ich ihn im Pflegeheim pflichtgemäße neunzig Minuten lang besucht und seinem Gebrummel über meine Mutter und seinen harmlosen Mutmaßungen über gewisse winzige Dinger zugehört, die er unbedingt auf den Ärmeln seines Pullovers und seiner Hose in Kniehöhe gesehen haben wollte. Nicht anders war er, als ich an meinem letzten Vormittag vorbeischaute, nicht anders, als ich ihn zu seinem Zimmer zurückschob und ihm mitteilte, dass ich jetzt abreisen würde. Da sah er zu mir auf und sagte – wieder, wie aus dem Nichts, war seine Stimme klar und fest: «Danke fürs Kommen. Schön, dass du dir Zeit genommen hast, mich zu besuchen.»
    Höflichkeitsfloskeln? Ein Fenster zu seinem eigentlichen Ich? Ich habe wohl kaum die Wahl, an welche der beiden Deutungen ich glauben soll.
     
    Da ich mich auf die Briefe meiner Mutter stütze, um den Verfall meines Vaters zu rekonstruieren, spüre ich den Schatten der undokumentierten Jahre nach 1992, in denen sie und ich längere Telefonate führten und uns nur noch ganz kurze Mitteilungen schrieben. Dass Platon in seinem
Phaidros
Schreiben als «Krücke der Erinnerung» bezeichnete, erscheint mir absolut genau: Ohne diese Briefe könnte ich die Geschichte meines Vaters nicht schlüssig erzählen. Doch wo Platon den Niedergang der mündlichen Überlieferung und den Gedächtnisschwund beklagt, den das Schreiben bewirke, bin ich am anderen Ende des Zeitalters des geschriebenen Worts beeindruckt von der Robustheit und Verlässlichkeit von Wörtern auf Papier. Die Briefe meiner Mutter sind wahrer und vollständiger als meine egozentrischen und voreingenommenen Erinnerungen; in dem geschriebenen Satz «er BRAUCHT Ablenkungen!» ist sie für mich lebendiger als in stundenlangen Videoaufnahmen oder in Stapeln von Fotos.
    Der Wunsch, unauslöschlich aufzuzeichnen, Geschichten in unvergänglichen Wörtern niederzulegen, scheint mir verwandt mit der Überzeugung, dass wir mehr sind als unsere biologischen Prozesse. Ich frage mich, ob unsere gegenwärtige kulturelle Empfänglichkeit für die Verlockungen des Materialismus – unsere zunehmende Bereitschaft, die Psychologie als chemischen Vorgang, die Individualität als genetische Anlage und das Verhalten als Ergebnis früherer Erfordernisse der menschlichen Evolution zu verstehen – nicht unmittelbar mit dem postmodernen Wiederaufleben des Mündlichen und dem Schwinden des Schriftlichen verbunden ist: unserem ständigen Telefonieren, unserem flüchtigen E-Mailen , unserer unerschütterlichen Hingabe an die Flimmerkiste.
    Habe ich erwähnt, dass auch mein Vater Briefe schrieb? Zumeist mit der Maschine, zumeist mit einer vorangestellten Entschuldigung für Tippfehler, kamen sie viel weniger häufig als die meiner Mutter. Einer der letzten ist vom Dezember 1987:
     
    Diese Jahreszeit ist immer schwierig für mich. Die ganze Schenkerei bereitet mir Unbehagen, weil ich zwar wirklich gern Sachen besorge, aber nicht die nötige Phantasie habe, die richtigen auszusuchen. Immer habe ich Angst, Sachen in einer falschen Größe oder in einer falschen Farbe zu kaufen oder eben etwas, was keiner braucht, und sehe die Probleme beim Zurückgeben oder beim Umtausch schon vor mir. Werkzeug kaufe ich gern, aber Bob machte mich darauf aufmerksam, dass es auch da Probleme gibt, als ich ihm nämlich aus irgendeinem Anlass einen hübschen kleinen, gut in der Hand liegenden Hammer schenkte, worauf er bemerkte, dass das jetzt schon der zweite oder dritte Hammer sei, danke, er brauche keinen mehr. Und dann noch das Problem mit den Geschenken für Deine Mutter. Sie ist so empfindsam, dass es mir in der Seelewehtut, wenn ich ihr nichts Hübsches kaufe, aber sie hat uneingeschränkten Zugang zu meinem Girokonto. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich doch selber was kaufen und dann behaupten, es ist von mir, damit sie bei diesem nachweihnachtlichen Gerede, «Sieh mal, was ich von meinem Mann bekommen habe!», mithalten kann. Aber den Betrug macht sie nicht mit. Also leide ich während dieser ganzen Zeit.
     
    Nach 1989, als seine Konzentrationsfähigkeit in dem Maße, wie bei ihm «Nervosität & Depressionen» zunahmen, im Schwinden begriffen war, schrieb mein Vater überhaupt keine Briefe mehr. Meine Mutter und ich waren daher baff, als wir in der Schublade, in die er besagte Adressen und Geburtsdaten gelegt hatte, einen nicht abgeschickten Brief vom 22.   Januar 1993 fanden – das war unvorstellbar spät, wenige Wochen vor seinem endgültigen Zusammenbruch. Der Brief
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