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Der Letzte Bus Nach Woodstock

Der Letzte Bus Nach Woodstock

Titel: Der Letzte Bus Nach Woodstock
Autoren: Colin Dexter
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Vorspiel
     
    »Laß uns doch noch einen Moment warten«, sagte das Mädchen in der dunkelblauen Hose und dem hellen Sommermantel. »Es muß ja gleich einer kommen.«
    Offenbar war sie sich jedoch nicht ganz sicher, denn sie begann erneut, den Busfahrplan zu studieren. Der Umgang mit Zahlenkolonnen und Chiffren war ihr schon immer schwergefallen. Zögernd fuhr sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand eine Waagerechte nach, ihr anderer Zeigefinger bewegte sich unsicher in senkrechter Richtung. Es sah nicht danach aus, als würden ihre Bemühungen in absehbarer Zeit zu einem Erfolg führen. Das Mädchen neben ihr trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und sagte: »Von mir aus mach, was du willst …«
    »Nur eine Minute noch. Ich hab’s gleich.« Sie starrte angestrengt auf den Fahrplan. 4, 4A (nicht nach 18 Uhr), 4E, 4X (nur samstags). Heute war Mittwoch. Das hieß …
    »Also, du kannst mir mit deinem Bus gestohlen bleiben. Ich trampe.« Höflichkeit gehörte nicht gerade zu Sylvias Tugenden. Sie könnte sich ruhig mal einen anderen Ton angewöhnen.
    Wie spät war es jetzt? Viertel vor sieben, das entspräche 18 Uhr 45. Sie kam der Sache allmählich näher.
    »Nun stell dich doch bloß nicht so an! Wir kriegen bestimmt gleich ein Auto. Die meisten Typen halten doch sofort, wenn ’ne Frau da steht.«
    So wie Sylvia aussah, schien ihr Optimismus nicht unbegründet. Die langen Beine unter dem knappen Minirock würden auf empfängliche Autofahrer ihren Eindruck nicht verfehlen.
    Einen Augenblick lang herrschte zwischen den beiden Mädchen ein fast feindseliges Schweigen.
    Eine ältere Frau kam langsam die Straße herauf. Ein paarmal hielt sie im Gehen inne, wandte sich halb um und sah die sich in der Dämmerung verlierende Straße hinunter, die ins Zentrum von Oxford führte. Einige Schritte von den Mädchen entfernt blieb sie stehen und setzte ihre Einkaufstasche ab.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte das Mädchen, das sich mit dem Fahrplan herumgeplagt hatte, »können Sie uns sagen, wann der nächste Bus kommt?«
    »In ein paar Minuten müßte einer hier sein.«
    »Geht er bis Woodstock?«
    »Nein, er biegt vorher nach Yarnton ab.«
    »Ach, das nützt mir nichts.« Das Mädchen machte ein paar Schritte auf die Fahrbahn, reckte den Hals und kehrte wieder an den Straßenrand zurück, als ein Pulk Autos sich näherte. Die ersten Fahrer hatten schon ihr Standlicht eingeschaltet. Noch immer war kein Bus in Sicht, und das Mädchen wurde zunehmend unruhiger.
    »Die Warterei hier könnten wir uns sparen. Laß uns doch endlich trampen«, sagte Sylvia mit einem leicht genervten Unterton in der Stimme. »Morgen früh wirst du mit mir zusammen darüber lachen.«
    Ein Auto. Und noch eins. Dann wieder die abendliche Stille.
    »Mir reicht’s. Ich hau jetzt ab.« Das zurückbleibende Mädchen sah Sylvia nach, wie sie entschlossen auf die große Kreuzung, ungefähr 200 Meter die Straße hinauf, zuschritt. Es war eine günstige Stelle zum Trampen, weil die Fahrer am Kreisverkehr mit der Geschwindigkeit heruntergehen mußten.
    Dann hatte sie sich entschieden. »Sylvia, warte!« Sie hielt mit einer Hand ihren Sommermantel oben zusammen und lief der anderen ungelenk hinterher.
     
    Die Frau harrte an der Haltestelle aus. Es hatte sich doch vieles geändert, seit sie jung gewesen war, dachte sie. Sie freute sich, gleich zu Hause zu sein. Als sie später aufgefordert wurde, sich zu erinnern, konnte sie das Mädchen, das Sylvia hieß, ziemlich genau beschreiben: das lange blonde Haar, ihre aufreizend zur Schau gestellte Weiblichkeit. Das zweite Mädchen hatte sich ihrem Gedächtnis nicht so gut eingeprägt. Ein heller Mantel, eine dunkle Hose – aber welche Farbe nun genau? Das Haar – hellbraun? ›Bitte überlegen Sie, Mrs. Jarman. Jedes Ihnen noch so geringfügig erscheinende Detail kann für uns von größter Wichtigkeit sein …‹ Sie sah den vorbeifahrenden Autos nach. Ein schwerer, polternder Sattelschlepper fiel ihr auf. Er transportierte eine schier unglaubliche Anzahl neuer Autokarosserien und schien unter seiner Ladung fast zu verschwinden. Männer? Männer, die allein fuhren? Sie würde versuchen, sich alles wieder so genau wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Ja, in manchen Wagen hatte nur der Fahrer gesessen. Sie war sich dessen ganz sicher.
    Um zehn vor sieben wurde in einiger Entfernung ein verschwommenes rosa Rechteck sichtbar, das allmählich feste Konturen annahm. Der rote Bus der Städtischen
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