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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich war Sparsamkeit auch ihr einziger bewusster Beweggrund, den Autopsiebericht meinem Valentinspäckchen beizufügen. So sparte sie zweiunddreißig Cent Porto.
    Meine klarsten Erinnerungen an jenen Vormittag im Februarsind visuell und räumlich: die gelben Mr.   Goodbars, mein Gang vom Wohn- ins Schlafzimmer, das Spätvormittagslicht einer Jahreszeit, die von der Wintersonnenwende ebenso weit entfernt war wie vom Frühling. Ich weiß allerdings, dass man selbst solchen Erinnerungen nicht trauen darf. Den neuesten Theorien zufolge, die auf einer Unmenge neurologischer und psychologischer Forschungen der vergangenen Jahrzehnte basieren, ist das Gehirn kein Album, in dem Erinnerungen jede für sich wie unveränderliche Fotos aufbewahrt werden. Eine Erinnerung ist vielmehr, mit den Worten des Psychologen Daniel L.   Schachter, eine «temporäre Konstellation» von Aktivität – eine zwangsläufig ungefähre Erregung neuraler Kreisläufe, die eine Reihe sensorischer Bilder und semantischer Daten in die flüchtige Empfindung eines erinnerten Ganzen einbinden. Diese Bilder und Daten sind nur selten das ausschließliche Merkmal einer bestimmten Erinnerung. Ja noch während jenes Valentinsvormittags griff mein Gehirn auf schon vorhandene Kategorien von «rot» und «Herz» und «Mr.   Goodbar» zurück; der graue Himmel in meinen Fenstern war mir von tausend anderen Wintervormittagen vertraut, und Millionen meiner Neuronen widmeten sich schon einem Bild meiner Mutter – ihrer Knickerigkeit beim Frankieren, ihrer romantischen Zuneigung zu ihren Kindern, ihres schwelenden Zorns auf meinen Vater, ihres eigenartigen Mangels an Takt und so weiter. Meine Erinnerung an jenen Vormittag besteht daher, entsprechend den jüngsten Modellen, aus einer Reihe fest installierter Nervenverbindungen zwischen den maßgeblichen Bereichen des Gehirns sowie einer Prädisposition der gesamten Konstellation, sofort – chemisch, elektrisch – aufzuleuchten, wenn ein Teil des Kreislaufs stimuliert wird. Man sage «Mr.   Goodbar» und bitte mich, frei zu assoziieren, und mir wird, wenn nicht «Diane Keaton», so doch bestimmt «Gehirnautopsie» einfallen.
    Derart würde meine Valentinserinnerung funktionieren,selbst wenn ich sie jetzt zum allerersten Mal hervorkramte. Tatsache ist aber, dass ich mich an jenen Vormittag im Februar seither unzählige Male erinnert habe. Ich habe die Geschichte meinen Brüdern erzählt. Ich habe sie als «unerhörten Muttervorfall» Freunden vorgetragen, die derlei Dinge immer gerne hören. Ich habe sie, zu meiner Schande muss ich das gestehen, sogar Leuten erzählt, die ich kaum kenne. Jedes neuerliche Erinnern und Wiedererzählen festigt die Konstellation von Bildern und Wissen, aus denen die Erinnerung besteht, ein Stückchen mehr. Auf der Zellebene brenne ich, Neurowissenschaftlern zufolge, die Erinnerung jedes Mal ein wenig tiefer ein, verstärke die dendritischen Verbindungen zwischen ihren Bestandteilen, fördere das Aufflammen jener spezifischen Synapsengruppen. Eine der großen Anpassungsleistungen unseres Gehirns, die Eigenschaft, die unsere graue Masse so viel schlauer als jede bislang entwickelte Maschine macht (die vollgestopfte Festplatte meines Laptops oder ein World Wide Web, das sich beharrlich und ausgesprochen detailliert an eine «Beverly Hills 90210»-Fanseite erinnert, die zuletzt am 20.   11.   98 aktualisiert wurde), ist unsere Fähigkeit, nahezu alles zu vergessen, was uns je widerfahren ist. Ich speichere allgemeine, weitgehend kategoriale Erinnerungen an die Vergangenheit (ein Jahr in Spanien, diverse Besuche indischer Restaurants in der East Sixth Street), aber relativ wenige konkrete Episoden. Jene Erinnerungen aber, die ich speichere, rufe ich immer wieder ab und festige sie dadurch. Sie werden buchstäblich – morphologisch, elektrochemisch – Teil der Architektur meines Gehirns.
    Das Erinnerungsmodell, das ich hier in einer recht freien und laienhaften Zusammenfassung dargestellt habe, reizt den Hobbywissenschaftler in mir. Es scheint gut zu der verwandten Verschwommenheit und Fülle meiner eigenen Erinnerungen zu passen, und das Bild neuraler Netzwerke, die sich in ungeheurer Parallelität mühelos selbst koordinieren, um meingespenstisches Bewusstsein und mein erstaunlich robustes Ichgefühl zu schaffen, flößt mir Respekt ein. Ich finde es schön und postmodern. Das menschliche Gehirn ist ein Netz aus hundert Milliarden Neuronen, vielleicht
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