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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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ehemalige Haus meiner Familie. Seufzend notierte Gregg sich die Namen der Kirche und der Highschool.
    Als ich auflegte, merkte ich, dass ich mich an Armen, Beinen und Brust gekratzt hatte. Anscheinend bekam ich einen richtiggehenden Ausschlag am ganzen Körper.
    Inzwischen, es ist Montagvormittag, und ich stehe im Schatten des Arch, der mir überhaupt nichts bedeutet, hat sich der Ausschlag zu einem brennenden, gürtelrosenähnlichen Band aus Schmerz und Juckreiz ausgebreitet und sich unten rechts um meinen Oberkörper gelegt. Derartige Beschwerden habe ich noch nie gehabt. Während der Aufregung der Dreharbeiten auf der Brücke hat der Juckreiz nachgelassen, aber während wir darauf warten, dass Gregg mit der Durchsicht des Materials fertig wird, möchte ich mich wie ein Verrückter kratzen.
    Endlich blickt Gregg von seinem kleinen Monitor auf. Wenngleich mit dem zweiten Take sichtlich unzufrieden, erklärt er, ein dritter sei nicht notwendig. Chris, der Kameramann, grinst wie ein Jagdhund, dessen Instinkt bestätigt worden ist. Er trägt Jeans und ein Kordhemd, sieht aus, als hätte er in seiner Jugend die Allman Brothers und Lynyrd Skynyrd gehört. Gregg wiederum sieht aus wie einer, dem die Smiths und New Order wichtig waren. Während er und ich in westlicher Richtung aus der Stadt hinausfahren, warte ich darauf, dass er mir Fragen über St.   Louis stellt oder sich mit mir über das Dröge und Künstliche dessen, was wir da tun, lustig macht, doch er muss auf seinem Handy hinterlassene Nachrichten beantworten. Er hat ein teures Team, einen begrenzt kooperativen Autor und nur noch sieben Stunden Tageslicht.
     
    Um am Montag für den Dreh Zeit zu haben, verlegte ich meine privaten Verabredungen auf den Sonntag ins Haus von Glenn und Irene Patton, den alten Nachbarn meiner Eltern. Die Pattons hatten besser als ich vorausgesehen, dass es schwierigwerden würde, wenn ich zu viele Leute hintereinanderweg besuchen wollte, und mich in New York angerufen und mir angeboten, einen kleinen Empfang auszurichten.
    Um drei Uhr nachmittags bog ich in meine alte Straße ein, Webster Woods, und zwar aus der Richtung, die mich auf dem Weg zum Haus der Pattons nicht an dem meiner Familie vorbeiführte. Ein jahreszeitlich unbestimmter, weder sommerlicher noch herbstlicher Nieselregen fiel, in einem Baum krächzte eine Schar Krähen. Obwohl Glenn unlängst zwei künstliche Kniegelenke bekommen hatte und Irene gerade von einer schweren Gürtelrose genesen war, wirkten die beiden, als sie mich an der Tür begrüßten, gesund und munter.
    Durch das Fenster in der Küche, wo ich mit halbherzigen Gesten bei den Vorbereitungen half, konnte ich die Rückseite meines Elternhauses sehen. Irene sprach freundlich über das junge Paar, das jetzt dort lebte. Sie erzählte mir, was sie über das Leben der beiden wusste und welche Veränderungen sie in den zwei Jahren, seit meine Brüder und ich das Haus verkauft hatten, an ihm vorgenommen hatten. Unser winziger Garten war jetzt ein Parkplatz für ein mittelgroßes Boot und einen mächtigen Geländewagen. Das Gras schien asphaltiert worden zu sein, genau konnte ich es aber nicht erkennen, weil ich es nicht ertrug, länger als eine Sekunde hinzusehen.
    «Ich hab ihnen erzählt, dass du kommst», sagte Irene, «und sie haben gesagt, wenn du magst, kannst du dir das Haus sehr gern ansehen.»
    «Ich will es nicht sehen.»
    «Ach, ich weiß ja», sagte Irene. «Als ich Ellie Smith anrief, um sie für heute einzuladen, hat sie nur gesagt, dass sie nicht mehr durch die Straße gefahren ist, seit ihr das Haus verkauft habt. Sie sagt, es tut ihr einfach zu weh.»
    Die Klingel der Pattons läutete. Wir hatten vier Paare eingeladen, mit denen meine Eltern gut bekannt gewesen waren unddie ich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr gesehen hatte. Es hatte etwas von einem Wunder zu beobachten, wie sie nun nacheinander zu zweit eintrafen, zu sehen, wie sie sich, ganz und gar lebendig und die Alten, in dem mit Teppichboden ausgelegten Patton’schen Wohnzimmer niederließen. Sie waren kaum jünger als meine Eltern – um die siebzig, achtzig   –, und meine Erinnerungen an einige von ihnen waren so alt wie die ältesten an meine Eltern. Wenn man den Tod eines Menschen, den man liebt, richtig
erfasst
, so wie ich schließlich und widerstrebend den Tod meiner Eltern
erfasste
, weiß man, dass die erste und grundlegendste Tatsache die ist, dass man den Menschen niemals wieder als lebenden, lächelnden, sprechenden
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