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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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Körper vor sich haben wird. Das ist das geheimnisvolle Wesen des Verlusts. Frauen zu umarmen, mit denen meine Mutter einen Großteil ihres Lebens Bridge gespielt hatte, die großen Hände von Männern zu schütteln, mit denen mein Vater Gestrüpp beseitigt oder an Ronald Reagans Präsidentschaft herumgenörgelt hatte, machte mir den Verlust und gleichzeitig auch sein Gegenteil bewusst. Alle diese Paare hätten meine Eltern sein können, die, zu hundert Prozent lebendig, noch immer ihre Krankheiten bagatellisierten, noch immer einen von Glenn Pattons großzügig eingeschenkten Drinks entgegennahmen, noch immer Tellerchen mit rohem Gemüse und Dessertvariationen und mit einer süßen Tapenade überbackenem Brie beluden. Und doch waren es nicht meine Eltern. Zum Beweis dafür stand nebenan ein verändertes Haus. Und im Garten standen ein Boot und ein bombastischer Geländewagen.
    Als die Party vorüber war und ich mich ins Wohnzimmer der Pattons setzte, um mir ein Football-Spiel der Rams anzusehen, kam draußen ein kräftiger Herbstwind auf, trocknete die Straße und fegte den Himmel klar. Ich dachte an die letzte Seite von
Swanns Welt
: an den Wind, der «den Grand Lac mit kleinen Wellen durchfurchte wie jeden anderen See». An die großen Eichen, die Marcel «verstehen lehrten, welcher Widersinn darinliegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muss, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann». Und an seine Folgerung: «Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr.»
    Das war eine Lektion, die ich schon lange vor dem Tod meiner Mutter gelernt hatte. Bei meinen Besuchen zu Hause hatte mich die Unscheinbarkeit, die Fadheit der Zimmer, die in meiner Erinnerung von beinahe magischer Bedeutsamkeit erfüllt gewesen waren, immer wieder enttäuscht. Und nun, so dachte ich, hatte ich noch weniger Anlass, in dem Haus nach der Vergangenheit zu suchen. Wenn meine Mutter, in den Händen Fingerhirse und kleine Zweige, die sie aus dem Rasen gezupft oder von ihm aufgelesen hatte, mir nicht im Morgenmantel die Auffahrt entgegenkam, wenn sie nicht aus dem Keller auftauchte, auf dem Arm nasse Laken, die sie nun endlich, nachdem es aufgehört hatte zu regnen, auf die Wäscheleine hängen konnte (der Geruch von Laken, die im Freien gehangen hatten, war ihr immer lieb gewesen), dann interessierte mich der Blick aus den Fenstern der Pattons nicht. Während ich so dasaß und Football schaute und auf den trostlosen Wind horchte, glaubte ich, dass ich den Blick auf mein Elternhaus deshalb nicht ertrug, weil ich damit abgeschlossen hatte: weil ich mich beim Eintreten nicht dem unausweichlichen Nichts aussetzen wollte, weil ich einem unschuldigen Haus nicht vorwerfen mochte, dass es noch immer stand, obwohl ihm seine Bedeutung doch längst genommen worden war.
     
    Doch es muss weitergehen! Wir drehen viermal, wie ich nach links in die Webster Woods einbiege, und nach jedem Mal lässt Gregg uns Pause machen, damit er es sich auf seinem Monitor ansehen kann. Mehrmals drehen wir, wie ich ganz langsamauf mein Elternhaus zufahre. Über das Walkie-Talkie meint einer der Männer, ich solle mich doch neugierig umblicken, so als wäre ich eine Weile nicht mehr da gewesen. Wir drehen die gleiche Szene noch einmal mit Chris auf dem Beifahrersitz, der das, was ich durch die Windschutzscheibe sehe, filmt und sich dann gegen die Tür drückt, um mich dabei aufzunehmen, wie ich mich neugierig umblicke, so als wäre ich eine Weile nicht mehr da gewesen.
    Gegen ein Uhr parken wir am Fuß des kleinen Hügels, auf dem mein Elternhaus steht. Die neuen Besitzer haben quer über den Hang, über dem ich früher mühsam einen Rasenmäher schob, eine Stützmauer gezogen. Die Mauer ist rosa – sie erinnert an eine Legofestung   –, aber vielleicht soll sie ja auf lange Sicht von Efeu überwuchert werden.
    Schon nach einem kurzen Moment muss ich wegschauen. Himmel und Sonne leuchten, die heimischen Bäume sind noch grün. Drei kleine Kinder spielen vor dem einzigen Neubau, einem hässlich stuckierten Kasten, den sie nach meinem Wegzug an der Straße gebaut haben. Gregg fragt die Mutter der Kinder, ob er sie filmen darf. Ich kenne die Mutter nicht. Früher kannte ich jeden in der Webster Woods, jetzt kenne ich nur noch die Pattons.
    Eine halbe Stunde lang sitze ich, während das Team typisch amerikanische Kinder filmt, die auf typischem Rasen tollen, auf einer
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