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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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dreieckigen Verkehrsinsel gegenüber dem Haus der Pattons in der Sonne. Ich versuche, mich nicht zu kratzen, wo es mich juckt. Hinter mir steht eine junge Eiche, die meine Familie nach dem Tod meines Vaters gepflanzt hat. Mein Vater hatte bezüglich seiner Bestattung oder Kremierung keine Verfügungen hinterlassen – hatte sich sein ganzes Leben lang geweigert, diese Dinge zu erörtern   –, also beschlossen wir, auf dieser Insel, auf der er fast dreißig Jahre lang den Rasen gemäht und Blätter gerecht hatte, einen Baum zu pflanzen. Um den Baum verstreuten wir etwasvon seiner Asche und stellten eine kleine Marmortafel auf, in die ZUM GEDENKEN AN EARL FRANZEN eingraviert war. Ich habe das Gefühl, dass dieser Baum Gregg interessieren könnte, und begreife meinen Entschluss nicht ganz, ihm nichts davon zu sagen. Klar, ich schütze meine Privatsphäre, und mein Ärger darüber, dass das Team seine Aufmerksamkeit an anderer Leute Kinder verschwendet, ist unsinnig.
    Nachdem Gregg zu meinem Wagen gerannt ist, um ein Erlaubnisformular zu holen, das die Mutter unterschreiben muss, soll ich die Straße entlangschlendern, während Chris, vor mir zurückweichend, dreht. Gregg bittet mich, ein paar Worte über die Webster Woods zu sagen, worauf ich einen kurzen Lobgesang darauf anstimme, wie froh ich war, hier aufzuwachsen, wie sehr ich die öffentlichen Schulen und die Congregational Church mochte.
    Gregg runzelt die Stirn. «Etwas Spezifischeres über das Viertel bitte.»
    «Na ja, man sieht ja, es ist Vorstadt.»
    «Etwas über die Leute, die hier so leben.»
    Über die Leute, die jetzt hier leben, denke ich, dass es nicht die sind, die einmal hier gelebt haben, und dass ich sie deswegen hasse. Ich denke, dass ich vor Wut sterben würde, müsste ich in dieser Straße leben, in der ich einmal so glücklich war. Ich denke, dass diese Straße, meine Erinnerung an sie,
mir
gehört; und dennoch besitze ich offenkundig nichts von ihr, nicht einmal das Filmmaterial, das in meinem Namen gedreht wird.
    Also halte ich für die Kamera einen kurzen soziologischen Vortrag darüber, wie sich die Gegend verändert hat, wie die Häuser erweitert wurden, wie viel mehr Geld die neuen Familien haben. Der Wahrheitsgehalt dieses Vortrags geht vermutlich gegen Null. Irene Patton ist aus ihrem Haus gekommen und winkt mir vom Vorgarten aus zu. Ich winke wie einer Fremden zurück.
    «Dürfen wir Sie denn wirklich nicht vor Ihrem Haus filmen?», fragt Gregg. «Nur davor, nicht drinnen.»
    «Tut mir leid», sage ich, «aber ich will das nicht.» Und dann überfällt mich, weil ich nicht verstehe, was ich da überhaupt schütze, ein jähes Bedauern darüber, dass ich so schwierig bin. Ich sage Gregg, ich würde ihm ein Foto des Hauses geben, aufgenommen im Winter und mit Schnee darauf. «Das Foto können Sie meinetwegen zeigen», sage ich.
    Gregg wirft die Haare nach hinten. «Und das geben Sie uns ganz bestimmt.»
    «Ganz bestimmt.»
    Aber Gregg scheint noch immer unzufrieden mit mir, und so biete ich ihm den Baum an. Ich erkläre ihm das mit dem Baum, ich erzähle ihm die Geschichte, doch die Wirkung ist nicht die erhoffte. Er zeigt sich nur mäßig interessiert, als ich das Team zurück zum Dreieck führe und auf die Marmortafel deute. Irene Patton steht noch immer in ihrem Garten, aber jetzt sehe ich nicht einmal zu ihr hin.
    Eine weitere halbe Stunde lang filmen sie mich und den Baum aus vielen Richtungen und Entfernungen. Ich gehe langsam auf den Baum zu, ich stehe nachdenklich vor dem Baum, ich tue so, als betrachtete ich die Inschrift am Fuß des Baums. Das Jucken an meinem Körper erinnert mich an die Szene in
Alien
, in der der frisch geschlüpfte Alien dem Astronauten aus der Brust fährt.
    Offenbar schaffe ich es nicht, Gefühle zu mimen.
    «Sie schauen den Baum hoch», instruiert Gregg mich. «Sie denken an Ihren Vater.»
    Mein Vater ist tot, und ich fühle mich tot. Ich erinnere mich und zwinge mich, es gleich wieder zu vergessen, dass hier auch Asche meiner Mutter verstreut wurde. Während Chris zoomt und schwenkt, registriere ich nicht viel mehr als die Anordnung der Eichenzweige auf meiner Netzhaut und überlege, wie groß der Baum gewesen ist, als wir ihn gepflanzt haben, und versuche, seine jährliche Wachstumsrate zu berechnen, doch ein Teil vonmir sieht mir selber dabei zu. Ein Teil von mir stellt sich vor, wie das im Fernsehen rüberkommt: als Schmalz. Gefühle wiedergeben, das mache ich als Autor, und dieser Baum ist mein
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