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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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werden. Früher am Tag, als ich noch für die Kamera, so gut ich eben konnte, ein nachdenkliches Gesicht machte, hat Oprah Winfrey bekannt gegeben, dass sie mein Buch ausgewählt habe, und es in einer Weise gelobt, dass ich rot geworden wäre, hätte ich die Gelegenheit gehabt, es zu hören. Einer meiner Freunde wird mir berichten, Winfrey habe gesagt, der Autor habe so viel in das Buch einfließen lassen, dass er «bestimmt keinen Gedanken mehr im Kopf hat». Dass das eine seltsam zutreffende Beschreibung ist, wird sich noch herausstellen. Ab dem folgenden Abend in Chicago jedenfalls werde ich in den Signierschlangen und Interviews auf zwei Arten von Lesern treffen. Die einen werden zu mir sagen: «Ich mag Ihr Buch und finde es wunderbar, dass Oprah es ausgewählt hat», die anderen werden sagen: «Ich mag Ihr Buch und finde es sehr schade, dass Oprah es ausgewählt hat.» Und weil ich jemand bin, der sich in Texas auf der Stelle einen texanischen Akzent zulegt, werde ich der jeweiligen Art von Leser auf seine jeweilige Art antworten. Rede ich mit Bewunderern Winfreys, verspüre ich glühendeDankbarkeit und Wohlwollen und finde es ebenfalls wunderbar, dass das Fernsehen das Lesepublikum vergrößert. Rede ich mit Kritikern Winfreys, verspüre ich das körperliche Unbehagen, das ich empfand, als wir die Eiche meines Vaters in Schmalz verwandelten, und klage über das Book-Club-Logo. Dafür handle ich mir dann Ärger ein. Ganz unerwartet werde ich Dan Quayle verstehen lernen, als ich in einem Augenblick der Erschöpfung in Oregon die Begriffe «Hochmoderne» und «Kunstliteratur» verschmelze und «Hochkunst» sage, um die Bedeutung Prousts, Kafkas und Faulkners für meine Arbeit zu beschreiben. Auch dafür handle ich mir dann Ärger ein. Oprah Winfrey wird mich aus ihrer Show ausladen, weil ich «widersprüchlich» wirke. Ich werde von empörten Populisten im ganzen Land verunglimpft werden. Ein Anonymus wird mich in der Zeitschrift
New York
einen «
motherfucker
» nennen, in
Newsweek
werde ich ein «aufgeblasenes Arschloch» sein, in der
Boston Globe
ein «egoverblendeter Snob» und in der
Chicago Tribune
ein «verzogenes, weinerliches kleines Gör». Ich werde die Möglichkeit erwägen und bis zu einem gewissen Maß auch daran glauben, dass ich das alles bin. Ich werde bereuen und erklären und modifizieren, weitgehend vergebens. Mein Ausschlag wird ebenso rätselhaft verschwinden, wie er gekommen ist; mein Gefühl, gespalten zu sein, wird sich nur noch mehr vertiefen.
    Doch das alles liegt noch in der Zukunft, als ich auf der Interstate 170, die schlecht beleuchteten Fahrbahnmarkierungen schneidend, der Magen leer, der Kopf vom Whisky ein wenig schwammig, nach Norden brause. Der Messingtürklopfer hat mich mitgenommen. Ich habe ihn in Pete Millers Obhut zurückgelassen, weil ich ihn nicht haben will. (Monate später wird er im Schreibtisch meines Lektors auftauchen.) Ich will den Klopfer nicht in der Hand halten, will ihn nicht einmal anschauen, und zwar aus demselben Grund, aus dem ich den Blick von meinem Elternhaus abgewandt habe. Nicht, weil ich sonst daran erinnertworden wäre, wie bedeutungslos das Haus jetzt ist, sondern weil das Haus vielleicht doch gar nicht so bedeutungslos ist. Die ferne Vergangenheit existiert womöglich nur in meinem Kopf, und meine Erinnerungen daran werden womöglich von der sterilen Gegenwart bloß ins Lächerliche gezogen, doch gibt es viel frischere und viel schmerzhaftere Erinnerungen, an die ich gar nicht erst gerührt habe: Erinnerungen, die ich im Haus hinter mir lassen wollte.
    Beispielsweise die kleine Pyrex-Schüssel mit den Dosenerbsen, die ich beim letzten Mal, als meine Mutter im Krankenhaus war, im Kühlschrank stehen sah. Meine Mutter hatte sich schon lange vorher damit abgefunden, dass sie im Haus wohnen blieb, während ihre Kinder an die Küsten flüchteten. Wir forderten sie auf, ebenfalls an eine der Küsten zu ziehen, doch das Haus war ihr Leben, es war das, was sie noch hatte, es war weniger die Stätte ihrer Einsamkeit als ein Gegengift dafür. Doch oft war sie dort sehr allein, und ich gab mir in New York immer die größte Mühe, an dieses Alleinsein nicht zu denken. Im Allgemeinen schaffte ich es ganz gut, es zu vergessen, aber als ich am Tag ihrer letzten Operation nach St.   Louis flog, entdeckte ich im Haus unübersehbare Zeichen: ein fleckiges Handtuch, das im Keller eingeweicht in einem Eimer Wasser lag, ein halb beendetes Kreuzworträtsel an ihrem
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