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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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Material, und nun trage ich dazu bei, es kaputt zu machen. Ich weiß, dass ich es kaputt mache, weil Gregg mich ansieht, wie ich vielleicht einen kaputten Kugelschreiber ansehen würde. Dass es mich an Bauch und Rücken so sehr juckt, ist fast eine Erleichterung, weil es mich von der Scham darüber ablenkt, wie ich versage, meinem Vater und seinem Baum gerecht zu werden. Hätte ich Gregg diesen Baum nur nicht angeboten! Aber irgendwas
musste
ich ihm doch anbieten!
    Ich versage als Oprah-Autor, und als das Team und ich letzte Schlender-Sequenzen drehen, wir sind schon über zwei Stunden in der Webster Woods, mache ich das Versagen komplett. Sechs Wörter fahren mir aus der Brust wie ein scheußlicher junger Alien. Ich sage: «Das ist doch der totale Schwindel!»
    Zu meiner Überraschung sieht Chris vom Okular auf, lacht und nickt heftig: «Da haben Sie recht!» Seine Stimme ist laut vor Heiterkeit und etwas wie Zorn. «Da haben Sie recht, der totale Schwindel ist das!»
    Gregg blickt nur mit versteinerter Miene auf die Uhr. Die Zeit wird knapp, und der Autor ist schwierig.
     
    Von der Webster Woods fahren wir durch die westlichen Teile des County zum Verkehrsmuseum, einem besseren Abstellgleis, zu dem Eisenbahngesellschaften ausgemusterte Waggons gebracht haben, vielleicht um für ihre Mühe barmherzige Steuernachlässe zu erzielen. Züge faszinieren mich nicht besonders, und in diesem Museum war ich nie, aber in den
Korrekturen
spielt ein Verkehrsmuseum eine Minirolle, und eine der Hauptfiguren des Romans ist Eisenbahner. Meine Aufgabe ist es nun also,neben Zügen zu stehen oder zu gehen und ein nachdenkliches Gesicht zu machen. Das tue ich eine Stunde lang.
    Als es Zeit wird, zu der Buchhandlung aufzubrechen, in der ich am Abend lesen und signieren soll, gebe ich Gregg die Hand und sage, er habe jetzt hoffentlich das eine oder andere Material, mit dem er etwas anfangen könne. An seiner verhaltenen Antwort erkenne ich einen, der wie ich Perfektionist und Grübler ist und dessen vielfach wiederholte Takes meinen vielfachen Änderungen am Text entsprechen.
    «Ich denke mal, daraus lässt sich was machen», sagt er.
    Der Borders Bookstore in Brentwood ist überfüllt, als ich eintreffe. Ein Pressemitarbeiter meines Verlags, der aus St.   Louis stammende Pete Miller, ist eigens eingeflogen und hat zur Lesung seine Schwester, seine Freundin und eine Flasche Single Malt mitgebracht, die ich auf meiner Lesereise trinken kann. Als ich ihn jetzt, nach einem Tag unter Fremden, sehe, fühle ich mich gleich wieder im Schoß der Familie. Das liegt nicht einfach nur daran, dass ich seit mittlerweile vierzehn Jahren beim selben, eher kleinen Verlag veröffentliche oder dass ich in Pete und seinen Kollegen eher Freunde als Geschäftspartner sehe. Der eigentliche Grund ist vielmehr der, dass Pete und seine Freundin direkt aus New York gekommen sind und New York von allen Städten dieser Welt am meisten meinem alten Zuhause entspricht. Meine Eltern bekamen mich eher spät, und meine typischste Erfahrung als Kind war die, mir selbst überlassen zu sein, während die Erwachsenen zur Arbeit gingen oder Feste feierten. Und genau das ist für mich New York.
    Vor lauter Heimweh falle ich Pete beinahe um den Hals. Erst am Ende meiner Lesung wird das ganze Ausmaß meiner Verbindung mit diesem anderen Zuhause, diesem St.   Louis, offenbar. In der Signierschlange stehen Dutzende von Bekannten – ehemalige Klassenkameraden, Eltern von Freunden, Freunde meiner Eltern, Sonntagsschullehrer, Mitspieler vom Schultheater,Highschool-Lehrer, Arbeitskollegen meines Vaters, Bridgepartnerinnen meiner Mutter, Bekannte aus der Gemeinde, nähere und entferntere alte Nachbarn aus der Webster Woods. Der neue Besitzer meines Elternhauses, der Mann, den ich den ganzen Tag über gehasst habe, ist gekommen, um mich zu begrüßen und mir ein Relikt aus dem Haus zu schenken: einen Türklopfer aus Messing mit dem Namen meiner Familie. Ich nehme den Klopfer und gebe ihm die Hand. Ich gebe allen die Hand und trinke den Whisky, den Pete mir eingegossen hat. Ich sauge die Freundlichkeit von Leuten auf, die nichts von mir verlangen, die einfach nur, um der alten Zeiten willen, gekommen sind, um hallo zu sagen und mich vielleicht ein Buch signieren zu lassen.
    Von der Buchhandlung aus geht’s direkt zum Flughafen. Ich muss die letzte Abendmaschine nach Chicago nehmen, wo Alice und ich am folgenden Vormittag ein neunzig Minuten langes Interview für
Oprah
aufzeichnen
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