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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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fehlt mir jede Subjektivität. Ich empfinde lediglich ein dumpfes Bestreben, es allen recht zu machen. Ich bin ein stummes, aber notwendiges Objekt, ein passiver Lieferant von Bildern, und mich beschleicht das Gefühl, sogar darin zu versagen.
    Mein drittes Buch,
Die Korrekturen
– ein Familienroman über drei urbane Ostküstenintellektuelle, die abwechselnd Sehnsucht und Widerwillen verspüren, wenn sie an die mittelwestliche Vorstadt denken, in der ihre alt gewordenen Eltern leben   –, wird bald als Oprah Winfreys neueste Empfehlung in ihrer Fernsehsendung Book Club vorgestellt werden. Eine Woche zuvor rief mich eine von Winfreys Produzentinnen, eine unkomplizierte Frau namens Alice, in New York an, um mich mit einigen Pflichten vertrautzu machen, die man als Oprah-Autor hat. «Das ist für uns ein schwieriges Buch», sagte sie. «Ich glaube, wir wissen erst, wie wir es angehen sollen, wenn wir die Rückmeldungen von unseren Gutachtern haben.» Aber zur Produktion einer kurzen biographischen Bildsequenz und einer impressionistischen Zusammenfassung der
Korrekturen
brauchen die Produzenten «
B-roll »
-Füllmaterial, das sie dann mit dem «
A-roll »
-Material von mir als Sprechendem zusammenschneiden wollen. Auf meiner Lesereise hätte ich ja am kommenden Montag einen freien Tag in St.   Louis (ich hatte vor, alte Freunde meiner Eltern zu besuchen), ob es da wohl möglich sei, ein wenig
B-roll
in meiner alten Gegend zu drehen?
    «Sicher», sagte ich. «Und wollen Sie mich auch hier in New York filmen?»
    «Vielleicht auch das», sagte Alice.
    Ich wies sie darauf hin, dass es zwischen meiner Wohnung und meinem Studio in Harlem, das ich mit einem befreundeten Bildhauer teilte, ganz schön viel optisch Reizvolles in New York zu sehen gebe.
    «Mal abwarten, was die vorhaben», sagte Alice. «Aber wenn Sie uns einen vollen Tag in St.   Louis zur Verfügung stehen könnten?»
    «In Ordnung», sagte ich, «obwohl St.   Louis mit meinem jetzigen Leben eigentlich gar nichts mehr zu tun hat.»
    «Vielleicht fragen wir später ja noch für einen anderen Tag an und drehen in New York», sagte Alice, «wenn nach Ihrer Leserreise noch Zeit bleibt.»
    Schriftsteller bin ich auch deswegen, weil ich mich mit Autoritäten schwertue. Eine Uniform getragen habe ich einzig und allein in meinem ersten Jahr an der Highschool, als ich bei den Marching Statesmen der Webster-Groves-Highschool Baritonsaxophon spielte. Ich war fünfzehn und wuchs schnell; zwischen September und November wurde mir die Uniform zu klein. Nach dem letzten Heimspiel der Statesmen in der Footballsaisonging ich vom Feld und lief durch Scharen älterer und jüngerer Mädchen mit engen Jeans und langen Schals. Ich wäre am liebsten im Boden versunken, weil ich mich so uncool fand, und zerrte meine Smokinghose möglichst weit nach unten, um meine lächerlichen Gamaschen zu verdecken. Ich löste die Messingknöpfe meines orange-schwarzen Uniformjacketts und ließ es offen herumhängen. So sah ich eher noch uncooler aus, und schon erspähte mich der Bandleader, Mr.   Carson. Er kam auf mich zu, drehte mich herum und brüllte mir ins Gesicht: «Franzen, du bist ein Marching Statesman! Entweder du trägst diese Uniform mit Stolz, oder du trägst sie gar nicht! Ist das klar?»
    Als ich mich auf Winfreys Empfehlung meines Buchs einließ, nahm ich mir Mr.   Carsons Tadel zu Herzen. Ich sagte mir, dass das Fernsehen von Bildern lebt; je schlichter und bunter sie sind, desto besser. Wenn die Produzenten mich als Mittelwestler haben wollten, dann wollte ich eben versuchen, ein Mittelwestler zu sein.
    Am Freitagnachmittag rief Gregg an und fragte mich, ob mir die neuen Besitzer meines Elternhauses bekannt seien und ob sie wohl erlauben würden, dass ein Kamerateam mich darin filmte. Ich sagte, mir seien die neuen Besitzer nicht bekannt. Gregg erbot sich, sie aufzusuchen und um die Genehmigung zu bitten. Ich sagte, ich wolle mein früheres Elternhaus nicht betreten. Tja, sagte Gregg, wenn ich wenigstens davor herumlaufen könnte, würde er die Erlaubnis der Besitzer gern dafür einholen. Ich sagte, ich wolle mit meinem früheren Elternhaus überhaupt nichts mehr zu tun haben. Allerdings spürte ich, dass ihm mein Widerstand missfiel, also bot ich ihm Alternativen an, die ihn, wie ich hoffte, reizen könnten: Er könne doch in meiner alten Kirche drehen, er könne in der Highschool drehen, er könne sogar in meiner alten Straße drehen, vorausgesetzt, er zeige nicht das
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