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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein
Autoren: Jonathan Franzen
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– der wiederkehrenden Gleichheit des Ganzen – angestochen. Wird Sex wiederum überzeugend geschildert, liest man ihn schnell autobiographisch, und mein Verlangen, in die Biochemie eines Fremden einzutauchen, ist begrenzt. Einige wenige Genies   – Philip Roth mag dazugehören – verfügen über die Fähigkeit oder Kühnheit, sich expliziten Sex leisten zu können, in den meisten Romanen aber, seien sie ansonsten noch so großartig, ist die körperliche Nomenklatur durch ihren früheren Gebrauch von Autoren, deren Hauptziel es einfach ist, den Leser zu erregen, hoffnungslos kontaminiert.
    Jacques Derrida hat in seinem Essay «Weiße Mythologie» in unglaublichen Verrenkungen demonstriert, dass die Sprache ein derart in sich geschlossenes System ist, dass nicht einmal einem so elementaren Wort wie «Sonne» von einem, der Sprache benutzt, nachgewiesen werden kann, dass es sich auf eine objektive, außersprachliche SONNE bezieht. Eine Kerze ist
wie
eine kleine Sonne, aber die Sonne ist
wie
eine große Kerze; bei genauer Betrachtung erweist sich, dass Sprache weniger durch die vertikalen Zuweisungen durch Benennen als vielmehr durch die lateralen Assoziationen durch Metaphern wirkt. Was also ist «Sex»? Alles ist wie er, und er ist wie alles – wie Essen, wie Drogen, wie Lesen und Schreiben, wie Verhandeln, wie Krieg, wie Sport, wie Erziehung, wie die Wirtschaft, wie gesellschaftliches Leben. Am Ende aber ist jeder Orgasmus mehr oder weniger gleich. Vielleicht ist Schreiben
über
Sex auch deshalb effektvoll und langweilig zugleich. Eine nominelle Sprache à la «heiße glitschige Fotze» und «harter strammer Schwanz» strebt ihre eigene Schließung an und erreicht sie auch. Der Orgasmus ist eine Art Konsumgut, und die Sprache, die ihn begleitet, bleibt so oder so immer eine Art Werbetext.
    Sprache
als
Sex dagegen strotzt vor den Fährnissen einesschwer zu kalkulierenden Eros. Wenn ich mit einem Roman im Bett liege, hoffe ich, dass der Autor mir treu ist. Gerade lese ich Nick Hornbys
High Fidelity
, eine vergnügliche Verspottung männlicher Ängste, wo die Freundin des Erzählers ihn verlässt, um sich mit seinem Nachbarn in der Wohnung über ihm zusammenzutun, einem Mann, der, wie er sich jetzt erinnert, im Bett «so etwas wie ein Dämon» war:
     
    «Der ist ja ganz schön ausdauernd», sagte ich eines Nachts, als wir beide wach lagen und an die Decke starrten. «Hätte ich auch mal so ein Glück», sagte Laura. Das war ein Scherz. Wir lachten. Ha, ha, machten wir. Ha, ha, ha. Heute lache ich nicht. Noch niemals hat ein Scherz mich derart mit Übelkeit, Paranoia, Unsicherheit, Selbstmitleid, Furcht und Zweifel erfüllt.
     
    Als sich in dem Roman, der sich fast ausschließlich um Sex dreht, dann nach hundert Seiten eine Sexszene mit allem Drum und Dran am narrativen Horizont drohend ankündigt, wird mein Widerwille gegen die Aussicht auf orgasmischen Kollaps durch einen seltenen Umstand gemildert: An sich finde ich nämlich das weibliche Objekt der Liebe (eine amerikanische Folkrock-Sängerin) und die Szenerie (eine heruntergekommene Wohnung in einem heruntergekommenen Londoner Stadtteil) ziemlich sexy. Obwohl ich mich auf die aufgerichteten Brustwarzen und die verspritzte Samenflüssigkeit, die vermutlich folgen werden, nicht freue, bin ich bereit, sie zu verzeihen, vielleicht sogar, sie doch ganz schön zu finden. Aber wenn Hornby seine Liebenden nach einer letzten, acht Seiten langen Verzögerung aufgrund von peinlichen Debatten und präkoitalen Beklemmungen endlich im Bett hat, erklärt der Erzähler abrupt: «Über den ganzen anderen Kram, den Wer-macht-was-bei-wem-Kram, sag ich nichts.» Vor die Wahl gestellt, dem, «was passiert», und seinem Leser die Treuezu halten, lässt Hornby den Leser nicht im Stich. Mit einem einfachen Satz lässt er den Vorhang fallen und beweist mir so, dass er selbst irgendwann beim Lesen die soeben von mir erlebte Spannung erlebt hat, und einen Augenblick lang fühle ich mich, obwohl ich allein im Bett liege, nicht allein. Einen Augenblick lang gehöre ich einer Gruppe an, die weder so groß ist wie etwas statistisch Nachweisbares noch so klein wie das nackte Ich. Es ist eine Zweiergruppe, der treue Autor und der vertrauensvolle Leser. Wir sind verschieden und doch gleich.
     
    (1997)

Bis dann in St.   Louis
    A n einem kühlen Morgen Ende September, am Rand einer von Lastern zerfurchten Straße, die an Brachflächen vorbei zu schmuddeligen Großmärkten führt, sagen mir
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