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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb
Autoren: Brom
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Prolog
     
    Heute Abend würde sie wieder geschehen: die wirklich schlimme Sache. Das Mädchen zweifelte nicht daran. Es hatte vor einigen Monaten angefangen, als ihre Brüste sich langsam entwickelt hatten, und jetzt, da ihre Mutter fort war, konnte ihn niemand mehr aufhalten.
    In ihrem Zimmer konnte sie hören, wie er im vollgestellten Wohnzimmer der kleinen Wohnung auf und ab ging. Er hatte einen seiner Wutanfälle, brummte vor sich hin, schimpfte auf den Fernseher, seinen Chef, den Präsidenten und Gott, aber vor allem auf ihre Mutter, weil sie so viele Pillen genommen hatte. Wieder und wieder wünschte er ihr den Teufel an den Hals. Doch ihre Mutter war tot und musste seine Tiraden deshalb nicht mehr ertragen, nie wieder. Das Mädchen wünschte, es hätte selbst so viel Glück.
    Dann erklang das knackende Geräusch eines Bierdosenverschlusses und dann noch mal und noch mal. Als ihre Hände zu zittern begannen, drückte sie sie fest gegen die Brust. Sie wünschte, einschlafen zu können, dann bliebe ihr zumindest das Warten erspart, die Angst. Doch sie wusste, dass sie heute Nacht kein Auge zutun würde.
    Da war er. Vor dem Flimmerlicht des Fernsehers zeichnete er sich als Schattenriss ab. Er lehnte in ihrem Türrahmen. Sie konnte seine Augen nicht erkennen, doch sie wusste, dass sein Blick auf sie gerichtet war. Sie zog die Bettdecke bis zum Hals hoch, als wäre die Decke ein magischer Talisman gegen das Böse. Manchmal starrte er sie stundenlang so an und brummte mit seinen beiden Stimmen vor sich hin: der freundlichen, sanften und der groben, furchteinflößenden. Sie stritten miteinander wie zwei Männer, die über Religion diskutierten. Normalerweisegewann die sanfte Stimme. Doch heute Abend war nichts von ihr zu hören. Nur ein tiefes Knurren drang aus seinem Hals, dann und wann unterbrochen von einem laut hervorgeblafften Fluch.
    Er trat in ihr Zimmer und stellte sein Bier auf die Kommode, direkt neben ihren Betty-Boop-Wecker, der sie morgens immer mit seiner knisternden Version des »Boop-oop-a-doop« weckte. In letzter Zeit war sie oft nicht zur Schule gegangen, weil sie die Blicke und das Getuschel der anderen Schüler und der Lehrer leid war. Alle waren so vorsichtig in ihrer Gegenwart, als ob der Selbstmord ihrer Mutter eine ansteckende Krankheit wäre. Vor allem aber wollte sie Mrs. Stewart, der Schulpsychologin, und ihren bohrenden Fragen aus dem Weg gehen. Irgendwie schien Mrs. Stewart von der Sache zu wissen und wirkte fest entschlossen, das Mädchen zum Reden zu bringen. Das machte ihr Angst.
    An der Schläfe hatte sie eine fünf Zentimeter lange Narbe, wo nie wieder Haar wachsen würde. Die hatte er ihr mit einer Gabel beigebracht, das einzige Mal, als sie es ihrer Mutter hatte sagen wollen. Das Mädchen stellte fest, dass es in letzter Zeit immer mehr über die Pillen nachdachte, die ihre Mutter geschluckt hatte. Sie fragte sich, ob die Pillen sie zu ihrer Mutter bringen würden. Darüber dachte sie jedes Mal nach, wenn die schlimme Sache geschah.
    Seine Hand lag auf ihr – schwer, heiß. Sogar durch die Decke spürte sie die Hitze, die von ihm ausging. Er zog die Laken beiseite und setzte sich neben sie. Sein massiger Körper drückte sich tief in die Federkernmatratze, sodass sie auf ihn zurutschte. Er legte ihr eine schwielige Hand auf die Wade und ließ sie langsam an der Innenseite ihres Schenkels hinaufgleiten, unter ihr Nachthemd. Seine wulstigen Finger drückten und bohrten, sein Atem ging schwer. Er stand auf. Sie hörte, wie seine Bronzegürtelschnalle schwer auf den Boden fiel, dann war erauch schon über ihr. Die kleine Matratze ächzte unter seinem Gewicht.
    Sie umklammerte ihr Kissen und versuchte krampfhaft, nicht zu schreien. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster und gab sich Mühe, an etwas anderes zu denken. Die Sterne waren heute Nacht besonders hell. Sie konzentrierte sich auf den magischen Glanz der Sterne, wünschte sich, zwischen ihnen umherfliegen zu können, so weit fort, dass der Mann sie nie wieder berühren konnte.
    Ein Schatten verdunkelte die Sterne. Jemand saß am Fenster und schaute zu ihnen herein. Im schwachen Licht erkannte sie, dass es sich um einen Jungen handelte. Er schob das Fenster hoch und schlüpfte mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung ins Zimmer.
    »Was zum …«, sagte der Mann, doch der Junge hechtete bereits quer durchs Zimmer und traf ihn mit beiden Füßen. Der Mann taumelte rückwärts auf den Flur. Der Junge bewegte sich schnell,
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