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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht
Autoren: Veronika Peters
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hatte, sich an der Aktion zu beteiligen. Wahrscheinlich hat er ihnen erzählt, dass seine Tochter vor Monaten abgehauen sei, mit asozialem Pack in besetzten Häusern rumhänge, sich für Drogenlohn ficken lasse und jetzt von einer dubiosen älteren Frau mittels Gehirnwäsche ihren Eltern vorenthalten wurde. Zurück in den Schoß der Familie, den sicheren Hafen für ein labiles junges Mädchen, das vor der Gosse
bewahrt werden müsse. Allein hatte er bislang nichts erreichen können, auf die Behörden war kein Verlass, er bat um Unterstützung, bildete seine eigene kleine Bürgerwehr. Fangen wir sie ein und beschützen das arme Ding vor sich selbst! Die Herren fanden sich bereit zu ehrenvoller Mission und schreckten vor tatkräftigem Einsatz im Dienst der guten Sache nicht zurück.
    Einen von ihnen hatte Marta später, kurz nach dem Gerichtsbeschluss, am Telefon, winselnd, dass er ja nicht um die Hintergründe gewusst habe, falsch informiert gewesen sei, alles viel zu schnell ging, sie möge doch bitte von weiteren rechtlichen Schritten absehen … Marta hatte aufgelegt.
    Mit drei Autos waren sie gekommen: Richard, seine fette Schwester Erika mit Gatten Walter, Nachbar Skiller, Nachbar Mersburger mit Sohn Hans und Greta. Keiner von Martas Blutergüssen stammt von ihrer Hand, sie hat nicht zugeschlagen, nicht geschrien, aber sie war dabei, und das war das Schlimmste: Greta war dabei.
    Sieben Leute: für eine Sechzehnjährige habe ich mich relativ lange gehalten, sagte Marta später der Richterin. Nein, sie war nicht stolz darauf. Auf die Bilder, die noch heute regelmäßig über sie herfallen, auf die Panikattacken könnte sie verzichten.
    Ein weißer Mercedes fuhr langsam um die Ecke, als Marta den Platz vor der Kirche betrat. In der Seitenstraße parkte ein roter Kombi, der ihr erst auffiel, als er sich vor die Ausfahrt schob. Richards Ford muss im selben Augenblick von irgendwoher dazugestoßen sein, die Logistik war perfekt. Aus dem Mercedes stieg Erika, Blumen in der Hand, ein eisern-strahlendes Lächeln auf dem breiten Gesicht: »Marta! Liebes, ich komme dich besuchen!« – »Absurd! «, hatte sie gerade noch Zeit zu murmeln, als sie Erikas Griff nach ihrem Hemd und auf sie zueilende Schatten bemerkte. Dann waren da viele Hände, unterdrückte Stimmen,
hektische Laute, zischende Befehle, ein Stoß in den Rücken, dumpf raubt er ihr die Luft. Marta dreht sich, alles dreht sich, wo ist oben, wo unten, »Hilfe!«, niemand da, den Schrei zu hören, gut gewählter Zeitpunkt, alles bestens organisiert, das musste man ihnen lassen.
    Raphaela im Wintergarten hörte Bach oder Schütz beim Verfassen ihrer Korrespondenz und fing erst drei Stunden später an, sich zu wundern, warum Marta vom täglichen Spaziergang zu den Pferden noch nicht zurück war.
    Richards hochrotes Gesicht tauchte vor ihr auf, glasige, vom Alkohol verwischte Augen, schwer rasselnder Atem roch nach kaltem Rauch und teurem Whiskey. Wenn der mich diesmal kriegt, dachte sie, ist es aus. Sie reißt sich los, weg, muss weg, schafft drei oder vier Schritte, eine Sekunde, eine Stunde, keine Zeiteinheit gilt mehr, da zieht es sie zurück, die Beine geben nach, knicken einfach um, brennend klatscht Schwärze in ihr Gesicht. Einen Haltepunkt finden, ihn wieder verlieren, blutig-bröselige Splitter im Mund, ein stechender Schmerz sitzt irgendwo, die Schulter explodiert zwischen einer Autotür. Ihr Hintern fällt weich, während die Knöchel hart auf eine Kante schlagen, hochgeschoben werden, als versuche jemand, sie zu einem Paket zu falten.
    Dann Gretas Augen über ihr, die sich langsam schlossen.
    »Mama, hilf mir!«
    Eine Männerhand, rau und riesengroß, schob sich um ihre Kehle, die Konturen von Gretas Gesicht verschwammen, Dunkelheit drängte sich zwischen die Augenlider, von weit her ein Schrei.
    Ungefähr hier, denkt Marta, muss die Löschtaste für das Wort »Mutter« betätigt worden sein.
    Später, im fahrenden Wagen, drückte Mersburger ihre Knie
nach unten, griff nach ihren Handgelenken. Greta saß starr vor sich blickend neben ihr, Richard musste in seinem Auto hinter ihnen gewesen sein oder sonst wo.
    Die stundenlange Autofahrt, bei der sie nicht einmal den Toilettenraum einer Raststätte ohne Aufsicht betreten durfte. Stimmen, die pausenlos auf sie einredeten, glitten vorbei, einzelne Satzfetzen drangen bis zu ihr vor: »zur Vernunft kommen, gehorchen, Vater und Mutter achten, Familienehre, man muss dankbar sein, du wirst den Mund schon noch
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