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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas
Autoren: Fred Vargas
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    »Was machst du denn hier im Viertel?«
    Die alte Marthe schwatzte gern ein bißchen. An diesem Abend hatte sie wenig Gelegenheit dazu gehabt und sich daher am Tresen auf ein Kreuzworträtsel gestürzt, zusammen mit dem Wirt. Der Wirt war ein braver Mann, aber bei Kreuzworträtseln konnte er einen rasend machen. Seine Antworten lagen immer daneben, er hielt die Regeln nicht ein, er achtete nicht auf die Anzahl der Felder. Dabei hätte er von Nutzen sein können, er kannte sich in Geographie aus, was komisch war, weil er Paris nie verlassen hatte, genausowenig wie Marthe. Für Fluß in Rußland mit zwei Buchstaben, senkrecht, hatte er »Jenissej« vorgeschlagen.
    Na ja, das war besser, als überhaupt nicht zu reden.
    Gegen elf hatte Louis Kehlweiler das Café betreten. Zwei Monate hatte Marthe ihn jetzt schon nicht mehr gesehen, und im Grunde hatte er ihr gefehlt. Kehlweiler hatte eine Münze in den Flipper geworfen, und Marthe verfolgte den Lauf der dicken Kugel. Dieses Idiotenspiel, mit einem Spalt, der extra dazu da war, die Kugel zu verlieren, mit einer Schräge, die es mit unaufhörlichen Bemühungen zu überwinden galt und die man, kaum war sie erklommen, geradewegs wieder hinunterstürzte, um sich in dem Spalt zu verlieren, der extra dazu da war, – dieses Spiel hatte sie schon immer verdrossen. Es schien ihr, daß die Maschine im Grunde ständig Moralpredigten hielt, eine strenge, ungerechte und deprimierende Moral. Und wenn man ihr mal aus berechtigtem Zorn einen Fausthieb versetzte, tutete sie, und man wurde bestraft. Und dafür mußte man auch noch zahlen. Man hatte durchaus versucht, ihr zu erklären, daß es sich dabei um ein Vergnügungsspiel handele, aber da war nichts zu machen, es erinnerte sie an ihren Religionsunterricht.
    »Also? Was machst du hier im Viertel?«
    »Ich bin gekommen, um nach was zu sehen«, sagte Louis. »Vincent ist was aufgefallen.«
    »Etwas, das sich lohnt?«
    Louis antwortete nicht, er mußte sich konzentrieren, die Flipperkugel rollte geradewegs auf das Nichts zu. Er erwischte sie mit einer Klappe, und sie bewegte sich träge klackernd wieder hinauf.
    »Du spielst lahm«, bemerkte Marthe.
    »Stimmt, aber du redest ja auch die ganze Zeit.«
    »Muß man ja. Wenn du deinen Religionsunterricht da betreibst, verstehst du nicht, was man dir sagt. Du hast mir nicht geantwortet. Etwas, das sich lohnt?«
    »Kann sein. Wird sich zeigen.«
    »Was ist es? Politisch, zwielichtig, unbestimmt?«
    »Gröl nicht so rum, Marthe. Eines Tages kriegst du noch Schwierigkeiten. Sagen wir, was Ultrareaktionäres an einem Ort, wo man es nicht vermuten würde. Das beschäftigt mich.«
    »Was Richtiges?«
    »Ja, Marthe. Was Richtiges, mit Siegel und allem Drum und Dran. Natürlich muß man’s noch überprüfen.«
    »Wo ist das? Bei welcher Bank?«
    »Bank 102.«
    Louis lächelte und startete eine Kugel. Marthe dachte nach. Sie fand sich nicht mehr zurecht, sie war aus der Übung. Sie verwechselte Bank 102 mit den Bänken 107 und 98. Louis hatte es einfacher gefunden, den öffentlichen Bänken in Paris, die ihm als Beobachtungsstationen dienten, Nummern zuzuteilen. Den interessanten Bänken, versteht sich. Tatsächlich war das praktischer, als ihre genaue topographische Lage im einzelnen aufzulisten, um so mehr, als die Lage von Bänken im allgemeinen ungenau ist. Aber im Laufe von zwanzig Jahren hatte es Veränderungen gegeben, Bänke, die in Ruhestand geschickt wurden, und neue, um die man sich kümmern mußte. Man hatte auch Bäume numerieren müssen, wenn an Schlüsselstellen der Hauptstadt keine Bänke vorhanden waren. Es gab auch vorübergehende Bänke für kleinere Geschichten. So war man schließlich bei Nr. 137 angekommen, weil eine frühere Nummer nie wiederverwendet wurde, und das vermischte sich nun in ihrem Kopf. Aber Louis war dagegen, daß man sich Notizen machte.
    »Ist 102 die mit dem Blumenhändler dahinter?« fragte Marthe stirnrunzelnd.
    »Nein, das ist die 107.«
    »Mist«, bemerkte Marthe. »Gib mir wenigstens einen aus.«
    »Hol dir an der Bar, was du willst. Ich hab noch drei Kugeln zu spielen.«
    Marthe war nicht mehr so leistungsfähig. Mit siebzig Jahren konnte sie nicht mehr so wie früher zwischen zwei Kunden in der Stadt umherstreifen. Und außerdem verwechselte sie die Bänke. Aber sie war eben Marthe. Sie brachte nicht mehr viele Informationen, aber sie hatte ein hervorragendes Gespür. Ihr letzter Tip war bestimmt zehn Jahre her. Er hatte einen ordentlich heilsamen
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