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Tod in Seide

Tod in Seide

Titel: Tod in Seide
Autoren: Linda Fairstein
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    Es war kurz nach acht Uhr abends. Von der Sonne, die gerade hinter dem steilen Kliff unterging, war nur noch der flirrende Kranz zu sehen, dessen blassrotes Schimmern das Ende eines langen Augusttages verkündete. Ich stand auf einem Erdhügel und blickte nach Westen zur Küste New Jerseys hinüber. Brackiges, trübes Wasser wirbelte gegen die großen Felsbrocken, die den Erdhügel säumten, und spritzte gegen meine Knöchel. Mein weißer Leinenrock, der sich heute Nachmittag in dem klimatisierten Gerichtssaal so kühl und leicht angefühlt hatte, klebte jetzt in der schwülen Luft an meinen Oberschenkeln, und ich schlug nach den Mücken, die sich auf meinen Unterarmen niederlassen wollten.
    Ich wandte mich von der beeindruckenden Aussicht über den Hudson ab und sah auf die Leiche der Frau hinunter, die vor weniger als einer Stunde an den Felsbrocken angeschwemmt worden war.
    Ein Detective von der Spurensicherung hatte gerade einen neuen Film in seine Kamera eingelegt und drückte gut ein Dutzend Mal auf den Auslöser. »Möchten Sie ein paar Polaroid-Aufnahmen, bis Sie die Vergrößerungen bekommen?« Ich nickte. Er wechselte die Ausrüstung, beugte sich über den Kopf der spärlich bekleideten Leiche und machte eine Blitzlichtaufnahme.
    Der alte Mann mit der Angel, der den grausigen Fund gemacht hatte, war sichtlich nervös, während er die Fragen beantwortete, die ihm ein junger, uniformierter Polizist vom 34. Revier auf Spanisch stellte. Der Polizist deutete auf eine ausgebeulte Jackentasche des Mannes, und die freie Hand des Anglers zitterte heftig, als er eine kleine Rotweinflasche aus der Tasche zog.
    »Sag ihm, er soll sich beruhigen, Carrera«, rief Detective Mike Chapman dem Polizeineuling zu. »Die hier behalten wir, die kommt also nie wieder an seine Angel. Der Fang des Tages. So was Sauberes ist nicht mehr aus dem Fluss gefischt worden, seit Rip Van Winkle ihn als Badewanne benutzt hat.«
    Chapman hatte sich gerade mit seinem guten Freund Mercer Wallace unterhalten, mit dem ich vor zehn Minuten an der Fundstelle eingetroffen war. Sie standen einige Schritte von mir entfernt, damit Lieutenant Peterson Mercer darüber informieren konnte, was er und Mike bisher vor Ort in Erfahrung gebracht hatten. Ich blieb in der Zwischenzeit bei den Füßen der Leiche stehen und sah hin und wieder auf die Frau hinab, halb in der Hoffnung, dass sie ihre Augen öffnen und etwas sagen würde. Wir warteten auf den Gerichtsmediziner, damit die Leiche von diesem trostlosen Stück Land an Manhattans nördlichster Spitze weggebracht werden konnte, noch bevor sich die Schaulustigen einfinden würden.
    Hal Sherman legte seine Kamera auf die Beweismitteltasche und wischte sich den Schweiß ab, der ihm den Nacken heruntertropfte. »Wie sind Sie so schnell hierher gekommen?«
    »Mercer und ich waren gerade bei einer Anhörung im Gericht, als ihn Mike anpiepte. Mike sagte, er hätte da eine Wasserleiche, möglicherweise ein Sexualverbrechen, und fragte, ob Mercer sich das mal anschauen könne. Und da hat er mich gratis dazu bekommen.«
    »Gib’s zu, Mädel, du konntest zu einem nächtlichen Streifzug mit den großen Jungs einfach nicht Nein sagen, stimmt’s?« Chapman kam zu uns herüber, um zu sehen, ob Sherman mit den Fotoaufnahmen fertig war. »Sag mal, Hal, wer ist der Typ dort drüben, der aussieht, als würde er gleich sein Mittagessen wieder auskotzen?«
    Wir drehten uns um und sahen einen ungefähr 25-jährigen Mann, der gegen einen großen Felsbrocken gelehnt stand, tief Luft holte und dabei eine Hand vor seinen Mund hielt. »Ein Reporter von der New York Times . Frisch von der Journalistenschule. Er soll mich begleiten und dabei einen Eindruck von unserer Arbeit am Tatort bekommen. Es ist sein dritter Auftrag. Zwei Einbrüche im Diamantendistrikt, eine Brandstiftung in einer High School, und jetzt – Ophelia.«
    Chapman ging neben dem Kopf der Leiche in die Hocke. Es war ihm anzumerken, dass er in diesem Anfangsstadium einer Morduntersuchung über die Anwesenheit von Amateuren nicht gerade erfreut war. »Sag ihm, er soll sich für die Restaurantkritiken bewerben. Das schlägt nicht so auf den Magen.«
    Ich ging näher ran, um Chapman dabei zuzusehen, wie er die Leiche noch einmal genau unter die Lupe nahm. Er konzentrierte sich auf die Details, die er bereits vor unserer Ankunft registriert hatte, und erläuterte sie Mercer Wallace. Die beiden hatten mehrere Jahre im Morddezernat Manhattan Nord zusammengearbeitet.
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