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Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Kapitel 1
    Arri war so gut wie tot. Und das wusste sie auch.
    Das Gemurmel der Männer, die über ihr Schicksal bestimmten, das Plätschern der Wellen, die die Pfähle der Holzkonstruktion umspielten, auf der ihre Hütten ruhten, das leise Seufzen und Knarren des Einbaums, auf den man den Herrscher der Raker für die letzte Reise gebettet hatte – all dies vermischte sich auf eine entsetzliche Weise mit dem fernen Totengesang der Klageweiber. Sie versuchte das Gewicht auf die rechte Seite zu verlagern, um ihre schmerzhaft verkrampften Nackenmuskeln zu entlasten. Aber das ließen die Fesseln nicht zu, mit denen man sie hier festgezurrt hatte. Trotz des Stechens im Nacken verdrehte sie so weit wie möglich den Kopf, um zu dem schwarzen Einbaum hinabzublicken, den Taru im zerrissenen Widerschein der nächtlichen Uferfeuer an einem Pfahl angebunden hatte.
    Niemals würde sie den Blick vergessen, mit dem er sie gemustert hatte, bevor er sich von ihr abwandte. Dieses Gesicht, das dem seines Vaters so sehr ähnelte: schmal war es, mit einem kraftvollen Kinn und energischen Wangenknochen; dann der nackte Oberkörper, auf dem Wassertropfen perlten, wie sie es auch an Dragosz so geliebt hatte, die wie zum Schlag erhobene rechte Faust – er war in diesem Augenblick so sehr das Abbild seines Vaters gewesen, dass sie hätte schreien können.
    Doch dann dieser Blick. Der Hass. Die Abscheu. Das Verlangen, die junge Frau seines Vaters an den Haaren zu packen und ins Wasser hinabzuziehen, sie zu ersticken, zu vernichten, sie aus … zu … löschen . Es lag ein Versprechen in diesem Blick, und es bestand nur aus einer einzigen Drohung: Bald, Arianrhod. Schon sehr bald werde ich kommen und dich töten !
    »Taru!«
    Arri zuckte bei der Erinnerung an den Ausruf zusammen, mit dem Abdurezak den Jungen zur Räson gebracht hatte. Sie schämte sich ihrer Gefühle. Sie schämte sich auch dafür, dass sie zu schwach gewesen war, das Unglück aufzuhalten. Letztlich schämte sie sich sogar, überhaupt geboren worden zu sein.
    Und jetzt saß sie hier allein mit ihrer Scham und ihrem Entsetzen, gefesselt, jedoch weniger durch die Stricke, die man ihr angelegt hatte, als durch ihre eigenen Gedanken. Nur ganz langsam begriff sie, dass ein neuer Tag begann, der erste Tag ohne Dragosz, also ohne den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen – und sie begriff, dass dieser Tag für die Welt um sie herum nicht anders beginnen würde als schon unzählige Tage zuvor.
    Sie öffnete den Mund zu einem verzweifelten Schrei – und schloss ihn dann wieder, ohne dass auch nur ein einziger Laut über ihre Lippen gekommen wäre. Alles war so sinnlos geworden. Sie und die Welt – das passte nun nicht mehr zusammen.
    Wie der kalte Atem des Todes hingen zerrissene Nebelschwaden über dem Wasser, durchdrungen vom schwachen Rosarot der Morgenröte. Auch dieser Morgen würde sich durch nichts davon abhalten lassen, so zu werden, wie es ihm bestimmt war: schön, heiß und strahlend. Im Licht der gemächlich aufgehenden Sonne drängten sich Arri Einzelheiten auf, die die anscheinend endlos währende Nacht verborgen gehalten hatte. Sie wollte nichts sehen, wollte auch gar nicht zu dem Einbaum hinüberblicken, der sanft auf den Wellen schaukelte. Mit aller Gewalt zwang sie ihren Blick darum zu Boden. Sie hatte dieses Boot schon immer gehasst: weil es das Symbol für Dragosz’ Tod war.
    Doch je mehr sie versuchte, den Einbaum aus ihren Gedanken zu verdrängen, umso mehr Macht schien er über sie zu gewinnen. Sie war sich schmerzhaft bewusst, dass er in seiner Art einmalig war, nicht vergleichbar mit den anderen Booten, die ein Stück weiter auf den rauen Ufergrund gezogen worden waren. Er wirkte breiter als üblich und gerade so lang, dass ein hochgewachsener Mann darin liegen konnte. Überdies war er statt aus Buchenholz aus einem wuchtigen Eichenstamm geschlagen worden, jenem Holz also, von dem es hieß, es überdauere die Ewigkeit.
    Alle im Dorf hatten gewusst, warum Dragosz selbst mit Hand angelegt hatte, als die Männer den gedrungenen Einbaum im Frühjahr ausgebrannt und behauen hatten. Er sollte ihm einmal für die letzte Reise über den Frykr dienen – aber doch nicht schon jetzt, und nicht nach einem so erbärmlichen Tod! Dragosz war der beste Herrscher, den sich die Raker nur hatten wünschen können! Er hatte sein Volk aus Hunger und Not herausgeführt, und er wollte mit Arris Unterstützung eine Weihestätte für die Himmelsscheibe
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