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Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Atem verschlug.
    Die aufgebrachten Männer und Frauen, die sie im wilden Fackellicht hierher geschleift hatten, hätten sie am liebsten gleich an Ort an Stelle wie eine räudige Katze ersäuft; und vielleicht wäre es auch besser gewesen, wenn Arri ihr Leben schon in der Nacht ausgehaucht hätte, wenn sie gefühlt hätte, wie das Wasser in ihre Lungen drang, und wie ihr dann die Sinne geschwunden wären. Es wäre so viel besser gewesen, als die nicht enden wollende Demütigung der Fesselung zu ertragen. Dabei waren es gar nicht die harten Stricke, die ihr zu schaffen machten, obwohl sie ihre Haut wund scheuerten und in ihr Fleisch einschnitten. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon schlimmere Schmerzen ertragen.
    Aber sie konnte sich an nichts erinnern, das schlimmer gewesen wäre als dies: Menschen, die sich vor Schmerzen krümmten, die sich erbrachen, die Schaum vor dem Mund hatten, die am Strand zusammenbrachen oder in verzweifelter Hoffnung auf die Hütte der Heiler zutaumelten. Ihren Schmerz zu spüren, ihre Wut und ihre Empörung, um dann zu begreifen, dass ja sie es war, der man die Schuld für die Katastrophe geben konnte. Noch jetzt spürte sie das Brennen auf der Kopfhaut – voller Brutalität hatte der kraftstrotzende Schmiedegehilfe Rar sie an den Haaren gepackt und hierher geschleift. Und noch jetzt glühten ihre Wangen von den harten Ohrfeigen der Frauen, die eine Wahrheit aus ihr hatten herausprügeln wollen, eine Wahrheit, die es doch gar nicht gab, nicht geben konnte.
    Und dann hatten sie sie in ihrem Elend liegen lassen.
    Irgendwann waren ihre Tränen schließlich versiegt, und sie war in etwas hinübergeglitten, das gar nicht weit von dem Todesschlaf entfernt schien, in den Dragosz schon seit gestern Abend versunken war. Erst das Plätschern von Wasser hatte sie wieder aus ihrer Erstarrung gerissen, und als sie dann den Kopf gehoben hatte, war ihr das große Feuer am Ufer aufgefallen, in dessen flackerndem Licht einige Männer damit beschäftigt waren, alles für die Todeszeremonie vorzubereiten. Mit brennenden Augen hatte sie beobachtet, wie Taru mit nacktem Oberkörper ins Wasser gestiegen war, um das Totenschiff mit einem rohen Tau hinter sich herzuziehen und es dann unmittelbar unter ihr zu vertäuen. Es schien endlos zu dauern, bis der Junge damit fertig war und sich unter dem wehklagenden Gesang der alten Weiber von seinem Vater verabschiedet hatte. Arri hatte – zur Untätigkeit verbannt – mit ansehen müssen, wie er zum Schluss mit übertriebener Sorgfalt noch den schlichten Umhang gerichtet hatte, bevor er ihr einen letzten hasserfüllten Blick zuwarf und dann zur Zeremonienhütte hinüberschwamm.
    Fast gewaltsam riss sie den Blick von Dragosz’ Gesicht los, von den ebenmäßigen und doch so wild wirkenden Zügen, die sie von Anfang an angezogen hatten. Erst da begriff sie, was ihr insgeheim schon längst aufgefallen war: Sein Umhang war in Unordnung geraten und halb verrutscht. Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie augenblicklich das Blut schmeckte. Fast sah es so aus, als hätte Dragosz mitten in der Nacht noch einmal seine mächtigen Muskeln angespannt, um sich hochzustemmen, als habe er sich in dem Einbaum aufrichten wollen, bevor ihn das Gift übermannt und er endgültig in sich zusammengebrochen war.
    Arri zog ihre zitternden Hände so weit wie möglich zurück. Die Feuchtigkeit war mit dem Nebel gekommen, der sich in der Nacht über den See gelegt hatte, war in sie hineingekrochen und hatte die Hitze vertrieben, die sie zuvor erfasst hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Mit dem Pulsschlag ihres hämmernden Herzens stieg etwas ganz Neues in ihr hoch, das die Hitze zurückbrachte: eine verrückte Hoffnung, alles könnte doch ganz anders sein, als sie geglaubt hatte. Was denn, wenn Dragosz tatsächlich noch nicht tot gewesen war, wenn sie sich geirrt und nur geglaubt hatte zu sehen, wie sein Blick brach und wie mit dem schmalen Speichelfaden, der sein Kinn hinablief, auch die letzte Lebenskraft aus ihm entwich?
    Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich, während ihr beängstigende Gedanken durch den Kopf schossen. Dragosz war gestern Abend in ihren Armen gestorben, und hätte man sie nicht mit Gewalt weggezogen, so würde sie seinen Kopf jetzt noch immer in ihrem Schoß halten und sein verschwitztes Haar streicheln.
    Das war jedoch etwas, das sie nie wieder tun würde. Obwohl sie dies nicht zum ersten Mal dachte, erschien es ihr plötzlich so schmerzhaft
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