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Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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mit einem Lächeln begrüßte, oder auch mit einem grimmigen Blick, wenn er sich hochzöge, um der verdammten Todesbarke einen Tritt zu verpassen! Wenn er auf die Planken spränge, um ihre Fesseln mit einem Schwerthieb zu zertrennen, damit sie dann gemeinsam ans Ufer stürmen konnten, denjenigen entgegen, die ihren Herrscher hatten tot sehen wollen …
    Es war eine so kindische und lächerliche Vorstellung, dass es ihr fast das Herz zerriss. Dragosz war tot, und er würde niemals wieder etwas umklammern, weder ihren Arm, um sie an sich heranzuziehen, noch den Griff einer Waffe. Und schon gar nicht würde er aufspringen, um gemeinsam mit ihr seine Feinde zu bekämpfen.
    Erst ganz langsam begriff sie, was überhaupt geschehen war. Sie hatte geglaubt, dass gestern der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen sei, schlimmer noch als der Tag, an dem ihre Mutter blutüberströmt in ihren Armen das Leben ausgehaucht hatte. Die Zeremonie des Opfertrunks, die Tonkrüge, die sie hatten herumgehen lassen, auf dass sich jeder mit dem Wasser die Lippen benetzte. Die Mächtigsten unter ihnen hatten einen kräftigen Schluck aus den geweihten Krügen der Ygdra zu nehmen … Die Männer und Frauen, plötzlich der Schaum vor dem Mund, und kurz darauf hatten sie sich in Krämpfen gewunden… Das Chaos, die Schreie, das Stöhnen; Dragosz, der auf sie zugetaumelt war, von einem Grauen erfüllt, das sie noch nie zuvor in seinen Augen gesehen hatte …
    Das war entsetzlich gewesen. Alles, was sie sich hier an diesem abgelegenen See zusammen aufgebaut hatten, in der neuen Heimat der Raker, all das, was sie sich an gemeinsamer Zukunft mit Dragosz und ihrem gerade erst geborenen Sohn erträumt hatte, alles, was sie vorgehabt hatten, um mithilfe der Himmelsscheibe die Hungersnot in der Zeit großer Dürre einzudämmen – mit einem Schlag hatte das Schicksal es hinweggewischt.
    Doch das, was sie jetzt durchmachte, war erst der Auftakt zu etwas noch viel Schlimmerem. Zu begreifen, dass sie selbst es war, die versagt hatte. Zu begreifen, dass sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte, obwohl sie ihn doch eigentlich hätte retten können. Zu wissen, dass zahlreiche Männer und Frauen gestorben waren und andere um ihr Leben gerungen hatten, ohne dass sie dem Einhalt geboten hatte, wie es ihre Pflicht als Heilerin gewesen war. Ja, sie hatte schon versucht zu lindern und zu helfen, sie hatte all das geheime Wissen aufgeboten, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. In aller Eile hatten sie und Isana einen Entgiftungstrank zu brauen versucht, etwas, das die Eingeweide reinigt und alles Giftige von innen herausspült. Wenn sie nur die richtigen Kräuter zur Hand gehabt hätte, wenn sie in den letzten Tagen nur nicht so nachlässig gewesen wäre, ihrer Pflicht nachzugehen, wenn sie sich nur weniger um Kyrill, ihren Sohn gekümmert hätte, wenn sie …
    Sie riss die Hände hoch und hämmerte sich mit den zusammengebundenen Fäusten gegen die rechte Schläfe, als könne sie diese Nachlässigkeit damit ungeschehen machen. Ein Windzug fegte wie zur Antwort über das feuchte Holz, auf dem sie seit Anbeginn der Nacht hockte. Und irgendwo in der Ferne donnerte es, als zöge dort ein Gewitter auf. Das Gemurmel der alten Männer, die sich in der großen Zeremonienhütte am Nachbarsteg versammelt hatten, verstummte, um dann umso lauter wieder einzusetzen. Arri ließ die Hände sinken und starrte in den Himmel. Keine Spur von einem Gewitter, und doch, sie war sicher: Das war ein Donnerschlag gewesen. Ein Zeichen der Götter womöglich, die im Gegensatz zum Ältestenrat schon längst ihr Urteil über sie gesprochen hatten?
    Wie zur Antwort krächzte in diesem Augenblick direkt über Arri ein Vogel. Es war ein so schauerlicher Laut, dass sie erschrocken die Hände sinken ließ und den Kopf nach oben riss. Ein großer schwarzer Vogel flog über sie hinweg, und für die Dauer eines Lidschlags sah es so aus, als blicke er aus dunklen tückischen Augen auf sie herab: so höhnisch, kalt und grausam, als labe er sich an ihrem Schmerz. Arri hatte das Gefühl, von einer kalten Hand gestreift zu werden. Aber dann flog der schwarze Vogel auch schon auf die offene Fläche des Sees zu, und als er das jetzt kräftigere Rot der Morgensonne erreichte, sah es aus, als würde er mit seinem dunklen Gefieder in einen Strom von Blut eintauchen. Arri starrte ihm ungläubig hinterher. Es gab hier viele Vögel, die meisten waren klein und bunt, und auch einige Reiher und
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