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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht
Autoren: Veronika Peters
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Gefühl abzuschütteln versucht, dem sie nicht einmal einen Namen geben will.

    Nachdem sie Paul vor dem Atelier abgesetzt hat, lenkt Marta den Wagen in Richtung Autobahn. Kurz vor dem Dreieck Pankow fällt ihr auf, dass sie viel zu schnell fährt. Während sie nach der nächsten Abfahrt Ausschau hält, dreht sie das Radio lauter und merkt erst an den ausweichenden Autos vor ihr, dass sich von hinten ein Krankenwagen nähert, der knapp rechts vorbeirast. Höchste Zeit, umzukehren.
    Obwohl Marta sicher ist, bereits genug getrunken zu haben, um bei einer Kontrolle Ärger zu bekommen, genehmigt sie sich auf dem Rückweg ein großes Bier und denkt, dass sie irgendwann bei einer ihrer ziellosen Touren sich selbst und den Wagen, für den sie zu viel von Pauls Geld ausgegeben hat, zu Schrott fahren wird.
    Der Parkplatz direkt vor dem Haus ist ein Glücksfall um diese Uhrzeit. Oben brennt kein Licht. Wo hat sie ihren iPod gelassen? Ohne Musik durchs stille Treppenhaus steigen und die verlassenen Räume der Wohnung betreten, mag sie heute nicht. Wo ist Paul? Er wollte nur schnell den Hund bei Valentin abholen; die zwei Häuserblocks Fußweg bis hierher hätte er inzwischen fünf Mal zurückgelegt haben können, selbst wenn Yannis trödelt und von sämtlichen vorbeikommenden Kindern gestreichelt werden muss.
    Noch immer leichte Übelkeit. Marta beschließt, weitere fünf Minuten zu warten, bevor sie raufgeht.
    Es klopft an die Scheibe. Der Kopf eines älteren Mannes,
schwach beleuchtet vom Licht der Straßenlaterne, erscheint im Seitenfenster. Hektisch schlägt Marta nach der Zentralverriegelung, erwischt den falschen Hebel, fährt panisch die Scheibe wieder hoch, greift nach dem Klappmesser, das sie immer bei sich trägt.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben! Können Sie mir sagen, wie ich zur Hufelandstraße komme?«
    Sie schüttelt den Kopf, beobachtet den Rücken des Mannes, der sich einem Passanten zuwendet, während sie versucht, ihre Atmung wieder in Gang zu setzen. Kalter Schweiß rinnt zwischen ihren Schulterblättern hinunter.
    Keine Angst. Ich will keine Angst mehr haben.
    Richard kann ihr nichts mehr tun.
    Schon lange vor dem Überfall konnte er ihr allenfalls körperlichen Schmerz zufügen. Es genügte, einen möglichst großen räumlichen Abstand zu wahren und die Furcht vor seinem Auftauchen in Schach zu halten, um die Trauer über den Verlust eines Vaters zu vergessen.
    Und jetzt sieht es so aus, als würden seine Kräfte endgültig schwinden. Irgendeine Krankheit, die ihn vernichtet, die Stärke aus seinen Fäusten saugt. Gut. Mehr muss sie nicht darüber wissen.
    »Dich erwische ich noch, ich mache dich fertig!« Wie lange ist es her, dass er diese Worte ins Telefon geschrien hatte? So laut, dass sie noch beim Weglegen des Hörers nachhallten. Er hatte sie erwischt. Einmal richtig, nachdem er es vorher oft vergeblich versucht hatte. Eine Menge Zeit hatte er damit verbracht, ihr aufzulauern, erschien plötzlich vor dem Schultor, an der Bushaltestelle, im Pausenhof. Marta war wachsam und schneller, sie wich ihm aus, hängte ihn ab, lernte Orte zu meiden, an denen Richard sie vermuten konnte, gab es auf, zur Schule zu gehen.
Bis er sie dann doch zu fassen bekam. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, für den sie teuer bezahlen musste. Trotzdem hatte er sich verrechnet, denn am Ende hatte es genügt, um ihr ein Leben in Freiheit vor ihm zu ermöglichen, ohne sie fertigzumachen, jedenfalls nicht vollkommen und nicht so, wie er sich das gewünscht hatte.
    Freiheit? Kommt darauf an, wie man das definiert, dachte sie.
    Irgendwann hatte er auch seine Anrufe eingestellt.
    Marta weiß nicht mehr, wann sie aufgehört hat, Richard als »meinen Vater« zu bezeichnen, das hatte sich bereits erledigt, als sie noch in seinem Haus wohnte.
    Mit Greta war das etwas anderes.
    Das Ende von Martas Dasein als Gretas Tochter lässt sich präzise bestimmen. Es gibt einen Ort, einen Zeitpunkt.
    »Mama, hilf mir!«
    Zum Schweigen gebracht von einer Männerhand, die sich um ihren Hals legt. Marta hat sich geschworen, dass dies die letzten Worte waren, die sie an ihre Mutter gerichtet hat.
    Es war einer der heißen Spätsommertage, als sie den Dorfplatz von Winnerod überquerte. Ihre nackten Füße steckten in dunklen Ledersandalen, eine weite Leinenhose flatterte ihr um die Knöchel, von denen noch keiner die Zeichen einer Verletzung trug.
    Bis heute weiß sie nicht, wie Richard neben Erika und Walter zwei seiner Nachbarn dazu gebracht
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