Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
Vom Netzwerk:
Leute um sich haben wollte. Frogman und die LeBowisten müssten erst an ihnen allen vorbei, wenn sie ihn womöglich hier suchen kämen.
    Irgendwann kam Wut in ihm auf und verdrängte einen Teil seiner Angst und Verzweiflung, und er begann etwas vernünftiger nachzudenken. Wie war das mit seinem Erzfeind bei Sunderland Associates, Rick Sturtevant? Er hatte dasselbe gesagt wie Wayne LeBow: Jesus sei gekommen, um Seelen zu retten, nicht Käfer und Schlangen. Steckte Sturtevant mit den LeBowisten unter einer Decke, und würde er Raff verraten? Wahrscheinlich nicht. Eher war die Bemerkung nur ein Gemeinplatz im evangelikalen Schwulst gewesen.
    Raff versuchte, seine unangenehmen Emotionen niederzukämpfen. Schließlich schwor er sich einen Eid. Ich bin jetzt achtundzwanzig. Und ich sage, lass kommen, was immer will. Ich werde mir jemanden suchen und heiraten, nicht mehr nur hier herumtigern. Eine Familie gründen. Normal werden. Lass jemand anderen in den Krieg ziehen. Mir ist einfach alles scheißegal.
    Genau da klingelte das Telefon. Es war Bill Robbins.
    «Wie geht’s, Kumpel?»
    «Tja, ich lebe noch», krächzte Raff.
    «Wo warst du denn? Ich habe dich gestern den ganzen Tag lang zu erreichen versucht. Ich wollte dir nur gratulieren zu der guten Nachricht, dass die Nokobee-Pläne durch sind. Das ist natürlich dir zu verdanken, dass Sunderland das alles geschafft hat. Wir bringen diesen Sonntag wieder ein Extra-Dossier. Ich übertreibe nicht, Raff. Eine Menge Leute sind dir dankbar für das, was du erreicht hast.»
    «Danke, Bill», sagte Raff. Die Anstrengung löste in seinem Kopf wieder ein Bombardement aus, und die Übelkeit begann wiederzukehren. Er wollte nicht mehr reden, aber er konnte nicht ohne Weiteres bei seinem bestenFreund den Hörer auflegen. «Das höre ich wirklich gerne. Lass uns später über alles reden.»
    «Raff?», sagte Robbins. «Alles in Ordnung? Du klingst halb tot. Ich weiß, dass es anstrengend war. Du hast eine Menge durchgemacht. Vielleicht solltest du dich einfach mal ordentlich erholen. Das hast du dir verdient.»
    «War alles heftig, ja, Bill,
sehr
heftig. Heftiger, als du je erfahren wirst.»
    Und wirklich sollte Raff Bill Robbins nie erzählen, was passiert war. Damit, er wusste es genau, würde er seinem besten Freund etwas Furchtbares antun. Dieses Dilemma wäre für einen Journalisten, der in der Öffentlichkeit tätig war, eine schwere Belastung. Kannte Robbins die Geschichte und schwieg, so wäre das mehr als einfach nur eine zurückgehaltene Geschichte. Er würde dann die Justiz behindern und womöglich gerichtlich belangt werden können, wenn die Wahrheit irgendwann doch ans Licht käme. Wenn er aber jemand anderem davon erzählte, setzte er das Leben von Raff und seiner Familie aufs Spiel. Frogman oder die rachsüchtigen LeBowisten standen draußen und warteten. Wer würde als Erstes vorbeikommen? Egal. Bill Robbins sollte nie davon erfahren.
    Irgendwann aber, das wusste er, würde er seinem Onkel Fred Norville davon erzählen, seinem lebenslangen Gefährten am Nokobee, seinem Tutor im College. In so vieler Hinsicht teilten die beiden ihre Freuden und ihre Träume. Onkel Fred war Raphael Semmes Codys innersten Gedanken näher als seine Eltern. So einen Vertrauten brauchte er, und in ein paar Monaten, vielleicht in ein paar Jahren, würde er ihm alles erzählen. Wer wusste schon, wann?

38

    A n einem Herbstmorgen ein halbes Jahr später drangen die Sonnenstrahlen am Dead Owl Cove als Erstes durch das Kronendach der Sumpfkiefern, dann kletterten sie lautlos an den Ästen und Stämmen hinunter, bis sie, vom Bodenbewuchs gefiltert, ein Kaleidoskop von Licht und Schatten, von Wärme und Frische auf den Waldboden zeichneten. Eine Brise erhob sich vom Wasser und arbeitete sich das steile Seeufer hinauf. Sie wehte über die Ameisenhügel hinweg und in den nahen Wald hinein, wo sie einen frischen, lebensfrohen Duft nach abgefallenen Kiefernnadeln mit einem Hauch von Stechpalme und Zimterle aufwirbelte.
    Im Wald hingen noch Tauperlen an den schlaffen Netzen, die die Radnetzspinnen letzte Nacht gesponnen hatten. Wolfspinnen, nachts gnadenlose Jäger auf Nachtinsekten, tags aber selbst eine wohlschmeckende Beute für bodenjagende Vögel, zogen sich bis zur nächsten Nacht in ihre mit Seide ausgekleideten Erdhöhlen zurück. Über einem nahen Gewässer tanzten Mücken auf Balzflug. Ihre winzigen Körper bildeten eine geisterhafte Wolke, die sich auflöste und wieder zusammenballte und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher