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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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wieder auflöste, dann endgültig zerstob. Ihre kurze Aktivitätsphase folgte aus Sicherheitsgründen einem genauen Timing – die kleinen Fliegen kamen zu spät für hungrige Fledermäuse und zu früh für die Libellen.
    Auch im nahen Ameisenhügel tickte eine biologische Uhr. Im früheren Nest der Trailhead-Kolonie, das nun von ihren direkten Nachkommen, der Woodland-Kolonie, bewohnt wurde, wogte eine Welle der Aktivität die senkrechten Nestkanäle hinunter in die tiefen Brutkammern, die mit Puppen und hungrigen, madenartigen Larven gefüllt waren.
    Es herrschte heute blühendes Leben, sowohl die Woodlander als auch ihre vielen Verbündeten und Feinde hatten einen fruchtbaren Sommer hinter sich. Überall rund um das Nest fielen aus der Sumpfkieferkrone als mundgerechte Beute noch immer Raupen herab wie reife Früchte, und Herden von Schmierläusen mästeten sich in der schmackhaften Vegetation der Krautschicht. Nach einem kurzen Regenschauer hatte der Himmel in der Nacht aufgeklart. Arbeiterinnen, die alt genug waren, um auf Futtersuche zu gehen, machten sich selbstsicher für den Ausflug bereit.
    Als die Sonne die oberen Kammern des Nesthügels erwärmte, schritten sie zwischen einigen der zusammengedrängten Arbeiterinnen hindurch und verließen den Haupteingang. Ein paar blieben in der Nähe, um Halme und kleine Brocken Holzkohle in Ordnung zu bringen, denn diese wärmespeichernden Elemente bildeten gleichsam das Dachstroh des Hügels. Andere entfernten sich weiter und begannen um das Nest zu patrouillieren, dann schwärmten sie ins Terrain aus und sammelten das über Nacht angesammelte Strandgut ein – neue Beute, frische Leichen von Gliederfüßern und die zuckrigen Ausscheidungen, die die Schmierläuse und andere saftsaugende Insekten heruntertropfen ließen.
    Nach einer Stunde kamen menschliche Besucher anden Dead Owl Cove. Es war die Truppe 43, die Panther und Habichte der Pfadfinder aus Mobile, die eine ganztägige Naturwanderung um den Lake Nokobee vorhatten. Geführt wurden sie von ihrem Gruppenleiter Raphael Semmes Cody. Sie konnten nicht wissen, wie verzweifelt gern er den Nokobee besuchte, jedoch außerstande war, dies ohne Begleitung anderer zu tun. Er musste immer von einem Pulk Menschen umgeben sein. Die Jungen, die ihn ständig mit ihren Fragen bedrängten, erfüllten diese Rolle hervorragend.
    Mit dem typischen zu lauten und kreischenden Lärmen qoll die Traube heranwachsender Jungen aus den Vans, mit denen sie gekommen waren. Ohne einen Blick dafür gingen sie am Ameisenhügel vorbei auf den Picknickplatz am Trailhead. In ihren Rucksäcken hatten sie wasserfeste Notizbücher, in denen sie ihre Beobachtungen festhalten wollten. Um den Hals hingen Fotoapparate, mit denen sie alles Sichtbare einfangen würden. Ihre Entdeckungen am Lake Nokobee würden später als Ausstellung im Pfadfinderheim zusammengetragen werden.
    Im Laufe des Tages beobachteten Raff und die Pfadfinder, wie ein Kanadareiher einen Wels aufspießte. Sie fanden die abgeworfene Haut einer Diamant-Klapperschlange, die halb um den Stumpf einer Sumpfkiefer gewickelt war. Sahen eine große Wassermokassinotter über das Ufer ins Wasser gleiten und ungewöhnlich bedächtig auf die Deckung eines Rohrkolbenstands zuschwimmen. Dokumentierten Klappschildkröten im seichten Seewasser, lungenlose Salamander unter nassen Vegetationsmatten am Ufer, quakende Schreifrösche, drei Arten von Echsen, die in Deckung rasten, Dutzende Blütenpflanzenarten, ganze Legionen fliegender und krabbelnderInsekten, die niemand zu bestimmen wusste. Sie sahen dreiundzwanzig Vogelarten, darunter das Hauptziel des Tages, den seltenen Kokardenspecht.
    Höhepunkt der Exkursion war freilich nicht der gefährdete Specht. Höhepunkt war die Entdeckung einer Schlange, 45 Zentimeter lang, von der Nase bis zur Schwanzspitze leuchtend bunt mit roter, schwarzer und gelber Bänderung. Mit diesem schönen Anblick wurde ein Pfadfinder belohnt, der einen toten Ast am Wegrand umdrehte.
    «Eine Korallenotter!», rief Raff. «Bleibt weg davon. Die ist tödlich giftig!»
    Natürlich kamen die Jungen ganz nah heran, um sich die Schlange anzusehen. Immerhin blieben sie aber außerhalb ihrer Reichweite, und einer sagte: «Yeah, wenn man von der gebissen wird, ist man in einer Stunde tot.»
    Die bunte Schlange suchte sich ihren Weg in die lockere Erde hinter dem Baumast. Raff beugte sich vor und sah genauer hin. «Wartet mal. Stopp. Das ist keine Korallenotter. Das ist eine Rote
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