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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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in seinen Lieblingssessel gesetzt hatte, um die frühen Abendnachrichten anzusehen. Ainesley, überlegte er, war in letzter Zeit nicht sehr viel unterwegs gewesen. Er hatte im vergangenen Winter einen leichten Herzinfarkt erlitten und wurde jetzt gegen Bluthochdruck und Angina Pectoris behandelt. Noch immer fuhr er morgens in den Eisenwarenladen, aber seine Jagd- und Angelausflüge und die Abende in den üblichen Honky-Tonk-Kneipen waren deutlich seltener geworden. Abgenommen hatte auch sein Zigarettenkonsum. Marcia hatte bis hin zur Drohung mit Scheidung alles versucht, ihn ganz vom Rauchen abzubringen, bislang aber ohne Erfolg.
    Raff sehnte sich jetzt besonders danach, seine Mutter zu sehen, am Leben und bei guter Gesundheit. Seit Cyrus damals vor zehn Jahren Raff das Geschenk einer College-Ausbildung gemacht hatte, hatte Marcia sich mit ihrem eigenen Leben sehr viel besser abgefunden. Sie engagierte sich ehrenamtlich im Sozialdienst der örtlichen Methodistenkirche, und sie freute sich mehr denn je und mit wachsendem Selbstbewusstsein auf Familientreffen in Marybelle. Die so flehentlich erhoffte Identität war Wirklichkeit geworden. Sie war jetzt mehr als nur Mrs. Cody. Sie war auch die Repräsentantin der Semmes aus Mobile, die bei ihrem Mann oben in Clayville wohnte.
    Heute Abend brannte Licht in der Küche. Vielleicht machte sie gerade das Abendessen. Und einmal, dann noch einmal, sah Raff kurz ihren Kopf im Fenster, als sie sich über die Spüle beugte.
    Dann ließ er den Motor an und fuhr durch Clayville, die Hauptstraße entlang, auf der jetzt abends schon kein Verkehr mehr war, und nahm die weniger befahrene zweispurige Straße nach Mobile. Auch unterwegs wollte er allein und unsichtbar sein. Frogman und die LeBowisten durften nicht wissen, wo er war. Südlich von Atmore hielt er an einem Getränkeladen und kaufte ein Quart Johnnie Walker Gold Label, den teuersten Whisky, der vorrätig war. Weiter unten bog er zum Southern Hospitality Motel ein, an das er sich von früheren Fahrten her erinnerte. Es sah heute Abend ruhig und gewöhnlich aus, und das orange Neonlicht flackerte «Zimmer frei».
    Raff umklammerte seine Flasche Johnnie Walker und nahm sich ein Zimmer. Der Rezeptionist vermutete, er sei betrunken und froh, von der Straße wegzukommen. In seinem Zimmer schloss Raff zweimal ab, streifte seine Kleider ab, duschte und warf sich nackt auf das Doppelbett. Er schaltete den Fernseher ein und regelte die Lautstärke so weit herunter, dass man kaum etwas hörte. Es war ihm egal. Er wollte einfach nur das Gefühl, von normalen Leuten umgeben zu sein. Die erste Meldung in den Nachrichten betraf ein Selbstmordattentat in Pakistan. Sanitäter trugen Verletzte durch die Straßen von Islamabad. Er fuhr zusammen und zappte durch die Kanäle, bis er eine Talkshow fand, bei der die Leute sich amüsierten und lachten. Er schraubte den Whisky auf und trank direkt aus der Flasche. Er starrte auf die Wand und versuchte, an gar nichts zu denken. Seine körperliche Erschöpfungmachte ihm das leicht. Bald versank er in tiefe Apathie. Irgendwie schaffte er es, den Deckel wieder auf die Flasche zu schrauben, und legte sie auf das Bett, bevor er einschlief.
    Raff erwachte am nächsten Morgen kurz nach elf Uhr. Er hatte dröhnende Kopfschmerzen, ihm war übel, und er war unendlich durstig. Er wusch sich das Gesicht, kippte ein Glas Wasser hinunter, zog sich an und ging hinüber ins Empfangsbüro. Vom Morgenrezeptionisten ließ er sich Aspirin geben, bediente sich an einem Automaten mit der Aufschrift KAFFEE GRATIS und spülte die Tablette hinunter.
    Drei Tassen später, der Kopf brummte ihm noch immer, checkte Raff im Southern Hospitality aus und fuhr weiter bis nach Mobile. Als er ankam, war er fast gelähmt vor Angst und fuhr nicht in seine Wohnung. Stattdessen parkte er an der Bledson Street. Von dort aus ging er zu Fuß zum Sunderland Office Building und fuhr mit dem Aufzug in die Chefetage. Er ging geradewegs in sein Büro, wies Sarah Beth ab, die ihn etwas zu fragen versuchte, ignorierte die Mitarbeiter, die ihn in seiner abgerissenen Aufmachung anstarrten.
    Raff schloss die Tür, setzte sich mit geschlossenen Augen an seinen Schreibtisch und horchte auf das Pochen seines Herzens, das in Form von schmerzenden Stichen in seinem Kopf widerhallte. Er konzentrierte sich darauf. Bumm, bumm, bumm …
am Leben, am Leben, am Leben …
Er fragte sich, warum er eigentlich hier im Büro war. Dann wusste er es wieder: weil er
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