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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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Blattwerk des ufernahen Gebüschs begrüßte ihn in der Welt des Lebendigen. Er ging an dem klaren Wasser in die Knie, benetzte sich das Gesicht und trank gierig aus den hohlen Händen.
    Dann stapfte er am Bach entlang zurück durch vertrautes Land. In der Dämmerung flog vor ihm ein Zebra-Schwalbenschwanz, die schwarz-weiß gestreiften Flügel blitzten auf, die langen Flügelenden wogten hinterher. Zu seiner Überraschung hatte er ihn absolut deutlich vor Augen, jedes Detail seines Körpers und seiner Flügel wurde größer und das Muster immer intensiver. Der Anblick bahnte sich den Weg in sein Bewusstsein, wie die Bilder eines Tagtraums, kurz bevor der Schlaf gnädig alles einhüllt.
    Er ging weiter, und währenddessen konnte er an nichtsanderes denken als an Schmetterlinge. Er begann sich nach weiteren Exemplaren umzusehen, nach anderen Arten. Nichts anderes fand Platz in seinen Gedanken. Schmetterlinge, nichts sonst war übrig vom Wald am Nokobee. Ihre Schönheit verdrängte den Horror. Schmetterlinge waren das Einzige, was für ihn jetzt noch wichtig war.
    Besessen von diesen schönen Insekten ging er den Nokobee-Pfad entlang und kehrte von seinem Abstieg in den Tod ins Leben zurück. Er sah, wie sich ein Dogface-Gelbling auf einen Zweig setzte. Er blieb stehen und sah auf einer Lichtung zwei kleine Bläulinge über den Blumen einander umflattern. Er ging weiter und erreichte bald den Laubholz-Dom, der ihm das Leben gerettet hatte. Eine Waldnymphe flog mit ruckartigen Flügelschlägen in den dunkler werdenden Schatten. Er blieb eine Weile stehen, sein Kopf begann klarer zu werden.
    Auf einem Busch bemerkte er Sunkys Cowboyhut, der dort so lag, wie er von seinem Kopf heruntergefallen war. Er holte ihn sich und nahm ihn mit. Später würde er ihn beseitigen und die Spur seiner Möchtegern-Mörder verwischen. Er musste Frogman schützen.
    Nahe am Trailhead stieg ein Riesenritterfalter in braungelber Pracht auf und segelte den Weg hinunter, dann bog er in ein engeres Wäldchen am Wasserrand ab. Er war auf dem Heimweg und würde die Nacht weit oben auf einem Baum verbringen.
    «Hey, hallo,
Papilio cresphontes
», begrüßte er ihn flüsternd, mit seinem wissenschaftlichen Namen, um ihm den gebührenden Respekt zu erweisen. «Hey, hallo, hallo», murmelte er wie benommen weiter und kam sich irgendwie dämlich vor. «Ich gehe auch nach Hause. Wir sind beide am Leben, wir sind heil davongekommen.»Er setzte sich in sein Auto, holte tief Luft und ließ den Motor an. Er fuhr los und hinaus auf die Straße Richtung Clayville.
    Zum Haus seiner Eltern kam er, als gerade das letzte Tageslicht erlosch. Kurz vor der Ecke zum Vorgarten bremste er plötzlich und saß einen Moment reglos still. Warum bin ich eigentlich hierhergekommen?, fragte er sich. Dann wusste er es wieder. Er musste mit eigenen Augen sehen, musste Gewissheit haben, dass sie in Sicherheit waren.
    Raff blieb wie angewurzelt im Auto sitzen, und wieder wurde sein Kopf ein Stück weit klarer. Er sah sich um, die Dunkelheit schloss ihn ein. Eine Fledermaus jagte über das Haus und geriet in den Baumkronen dahinter außer Sicht. Ein Leuchtkäfer, der seinen Balzruf in Lichtpunkten artikulierte, flog über den Garten: blink-blink-blink-blitz-blink-blink … Raff konzentrierte sich auf das Leuchtsignal und fragte sich: Habe ich das richtig gesehen: blink-blink-blink-blitz-blink-blink-blitz? Wie schön wäre es doch, so in die sichere, vorhersagbare Welt der Natur zurückzukehren. Er merkte, dass die Wahnvorstellung wiederkehrte, und unter großer Anstrengung riss er sich zusammen.
    Er konnte ohne Weiteres zur Vordertür gehen, ins Wohnzimmer spazieren und seine Eltern umarmen. Es zog ihn heftig dorthin. Aber das durfte er nicht. Er wusste, dass er aussah wie einer, der gerade aus einem Unfallauto gekrochen war. Damit wäre eine Erklärung fällig, und die wagte er nicht zu geben. Es war völlig unnötig, Ainesley und Marcia mit dem Horror zu belasten, den er gerade durchgemacht hatte. Und schlimmer noch: Er fürchtete, Frogman könnte irgendwie erfahren, dass eres jemandem erzählt hatte, und dann würde er aus dem Sumpf geschossen kommen und noch einen Massenmord begehen. Raff würde dann zum bösen Geist, der einen grausigen Fluch ausgesprochen hätte.
    Er blieb also ruhig sitzen und versuchte nur, durch den Windfang einen Blick auf seine Eltern zu erhaschen. Ein paar Minuten später begann im Wohnzimmerfenster ein Licht zu flackern. Das hieß, dass sein Vater sich
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