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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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Leben nimmt, muss nicht länger befürchten, nachträglich der ewigen Verdammnis anheimzufallen. Im Gegenteil: Wir akzeptieren und bewundern stillschweigend die Kraft zu dieser letzten, großen Entscheidung, die ein Mensch treffen kann.
    Es liegt bereits einige Jahre zurück, als ich eines Tages im Städtchen Eugene, hoch oben im Nordwesten der Vereinigten Staaten, landete. Dort stand damals die Abstimmung über den Verfassungszusatz 107 auf der politischen Tagesordnung, der im Bundesstaat Oregon todkranken Patienten das Recht auf selbstbestimmtes und ärztlich unterstütztes Sterben zugestanden hätte. Die Befürworter des »Rechts zu sterben« wollten damit eine erste Bresche in die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten schlagen, um nach erfolgreichem Votum Kalifornien in Angriff zu nehmen. Sie hatten sich bewusst den Bundesstaat Oregon ausgesucht, dessen Bewohner als überzeugte Individualisten gelten, die staatlicher Bevormundung von jeher kritisch gegenüberstehen. Zwei Drittel von ihnen gab an, keiner der traditionellen religiösen Gruppen anzugehören. Ein Viertel bezeichnete sich als Agnostiker oder Atheisten. Das ist der höchste Wert aller Bundesstaaten. Auf ihre Stimmen hofften die Befürworter des Verfassungszusatzes.
    Ich war im Auftrag der Weltspiegel -Redaktion quer über den Kontinent geflogen, um über Hintergründe und Ausgang des Vorhabens zu berichten. Es war Herbst. Der Himmel hing tief über der Stadt. Wind und Regen hatten den handgemalten Plakaten der Befürworter und den professionellen der Gegner gleichermaßen zugesetzt. Der Streit war lang und heftig gewesen. Es gab Gerüchte über eingeschlagene Fensterscheiben, handfeste Auseinandersetzungen und beschädigte Autos. »Hier wirkt noch die Tradition des alten Westens nach«, wurden mir die rauen Sitten verständlich erläutert.
    Am Wochenende würde die Abstimmung stattfinden.
    Einen Abend zuvor wurden mein Team und ich von einem unserer Interviewpartner überraschend zu einer Party mitgenommen.
    Pauline Holman, die Gastgeberin, war Ende dreißig und arbeitete für eine Maklerfirma. Die Natur hatte sie prächtig mit einem wilden Schopf roter Haare und hellen, blauen Augen inmitten ungezählter Sommersprossen ausgestattet. Sie war sportlich, lebenslustig und schien unbegrenzt kontaktfähig. Einen Ehemann hatte sie noch nicht gefunden und vermutlich auch nie vermisst, dafür aber einen großen Kreis guter Freunde, die sich zahlreich an diesem Abend in Paulines Loft eingefunden hatten. Es gab vorzüglichen kalifornischen Wein und Platten mit süßem Naschwerk, der einzigen Schwäche von Pauline, soweit wir informiert waren. Aus dem Hintergrund kam weiche, nasale Countrymusik.
    Trotzdem war die Stimmung gedrückt. Die Gäste unterhielten sich zurückhaltend und in ruhigem Tonfall. Einige schauten still vor sich hin. Andere schüttelten ohne erkennbaren Anlass hin und wieder den Kopf.
    Wir wurden Pauline vorgestellt. »Ich habe von euch gehörtund meinen Freund gebeten, euch mitzubringen. Ihr wisst, was geschehen wird?« Wir nickten. Sie war wirklich eine bemerkenswert attraktive Frau. »Ihr könnt filmen, mit mir reden, meine Freunde interviewen, alles, was ihr braucht, um euren Leuten in Deutschland zu erzählen, was hier stattgefunden hat.« Sie griff zu den Süßigkeiten. »Jetzt kommt es wirklich nicht mehr darauf an.«
    Zwischen all den niedergeschlagenen Mienen war ihre die fröhlichste. Sie plauderte lebhaft, umgeben von den Gästen, die verlegen in ihre Gläser starrten. Bis auf eine mächtige rote Perücke hatte der Krebs noch keine sichtbaren Spuren bei ihr hinterlassen. »Ich möchte gehen, solange ich das Heft in der Hand habe, und selbst bestimmen, wie die Leute mich in Erinnerung behalten werden. So nämlich, wie ich vor euch stehe, und nicht als entstelltes Opfer einer Krankheit, gegen die ich chancenlos bin, wie mir die Ärzte glaubhaft versichert haben.«
    Gegen Mitternacht bat sie um Ruhe und verabschiedete sich von jedem ihrer Freunde. Während diese hilflos vor ihr standen, fand Pauline die tröstenden Worte, bevor sie sich ein letztes Mal umarmten. Anschließend zog sie sich mit einer Freundin in den Nebenraum zurück.
    Wir fassten uns bei den Händen oder legten die Arme über die Schultern unserer Nachbarn und sangen We shall overcome , das alte Lied der streikenden Tabakarbeiterinnen, während wir unseren Tränen freien Lauf ließen.
    Einige Minuten später kam die Freundin allein zurück. »Es ist geschafft«,
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