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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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Marktes, der mit dem geduldig Leidenden wenig anzufangen weiß, auszuliefern.
    Unsterblichkeit mag ein Fernziel der Menschen sein. Die Wünsche meiner Generation sind vorerst noch bescheidener. Die beiden letzten bedeutsamen Themen, die auf unserer Tagesordnung stehen, sind: die Abschaffung der Einzelhaft als Folge der Pflegeversicherung und der Freitod als Menschenrecht.
    Vor allem Letzteres wird schweres Tagewerk. Dem stehen zweitausend Jahre Christentum und die damit verbundenen Machtverhältnisse und geistigen Traditionen entgegen. Es wird außerdem nicht leicht sein, das Thema, mit dem keine Wahlen zu gewinnen sind, im publizistischen und politischen Raum zu verankern.
    Man wird zudem sehr behutsam mit der oft naheliegenden Vorstellung umgehen müssen, unter bestimmten Umständen lohne sich ein Leben nicht mehr. Meine Mutter hatte oft angekündigt, früh und im Vollbesitz ihrer Kräfte gehen zu wollen. Schließlich starb sie nach jahrelangem Siechtum mit vierundneunzig Jahren. Sie hat mich gelehrt, vorsichtig zu sein mit jener weitverbreiteten Meinung, der Tod sei unter den Umständen langen Leidens eine Erlösung. Aus der Distanz von Jugend zu späterem Leid mag diese Vermutung naheliegen. Dem bettlägerigen Alten ist der augenblickliche Zustand jedoch sein ganzes Leben, selbst wenn er keine Aussichten hat, je wieder ins Kino zu gehen, zu wandern oder in einem See zu baden. Mehr hat er nicht, und es erscheint ihm ausreichend. Er allein entscheidet über dessen Fortgang. Guter Rat von Jüngeren nützt ihm nichts, denn diese gleichen ihre eigene Situation mit der des leidenden Alten ab und kommen zwangsläufig zur Einsicht, die Existenz in der schmerzgepeinigten Hülle sei kaum mehr lohnenswert.
    In den Körpern alter und kranker Menschen entwickelt sich jedoch oft ein zäher Überlebenswille. Verbunden mit der menschlichen Tugend, unbequeme Entscheidungen zu verschieben, ergibt dies eine robuste Basis, um trotz Schmerzen und dem Versagen der Sinne weiterzuleben. Der Körper selbst, der ohnehin begonnen hat, ein Eigenleben zu entwickeln, und nur noch selten den Befehlen seines Besitzers folgt, sträubt sich gegen den letzten Akt der Selbstbestimmung, bis hin zu jenem Punkt, an dem er nicht mehr handeln kann und der Mensch der Natur zur Gänze ausgeliefert ist.
    »Ich habe oft daran gedacht, Schluss zu machen«, vertraute mir eine Schwerkranke im »Rosenpark« an, während ich ihre federleichte Hand hielt, die nur noch aus Knochen, Adern, trockener Haut und großen Fingernägeln bestand, »es hat sich ja nicht mehr gelohnt. Aber jedes Mal habe ich mir gesagt: Heute noch nicht, besser ist morgen. So ging das lange Zeit, und eines Tages konnte ich nicht mehr. Jetzt liege ich hier und warte wie alle anderen auch.«
    Während abendlicher Zusammenkünfte bei Nudeln und rotem Wein in großzügigen Wohnküchen von Freunden und Bekannten hat sich der Freitod als Gegenstand bedächtiger Überlegungen allmählich in unserem Themenrepertoire eingenistet.
    »Es muss doch mir überlassen bleiben, wann und wie ich sterben will. Ein Ende mit irgendwelchen Spritzen ist auf jeden Fall besser als ein qualvoller Tod. Denn eines haben wir nicht gelernt«, meinte einer selbstkritisch, »zu leiden.«
    »Außer dem christlichen Verbot habe ich noch kein überzeugendes Argument gegen den Freitod gehört. Aber das betrifft mich ja nicht. Es ist nicht einzusehen, dass in einer Welt ohne Natur einzig das Sterben ihr überlassen bleiben soll«, begründete ein anderer seine Zustimmung zum Projekt Freitod.
    Ein weiterer Bekannter, der gern in großen Zusammenhängen denkt, erklärte geradeheraus: »Wir werden es uns nicht leisten können, Millionen Dementer oder von Apparaten abhängiger Schwerkranker über Jahrzehnte menschenwürdig zu versorgen. Wer frühzeitig gehen will, dem sollten wir keine Hindernisse in den Weg legen. Kannst du natürlich nicht laut sagen«, schloss er seinen Exkurs in die Altenökonomie der Zukunft.
    »Das Thema stand damals nicht auf der Tagesordnung, schließlich waren wir eine Studentenbewegung. Aber noch ist Zeit, die Sache in die Hand zu nehmen.«
    Mit unterschiedlichen Argumenten zwar, aber in eindeutiger Tendenz beginnen die »Vierziger«, das Thema Suizid vorsichtig in der Öffentlichkeit zu platzieren. Noch ist es keine Bewegung oder ein ausformuliertes Projekt, aber wir befinden uns in der Phase, in der das Terrain bereitet wird. Erste Fortschritte sind bereits erkennbar. Wer sich bei vollem Bewusstsein das
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