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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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nicht mehr zu ändern. Das ganze Ausmaß denkbaren Elends hat sich in der Gegenwart meiner Gedanken eingenistet, während meine Alterskohorte mit gutem Erfolg vorläufig damit beschäftigt ist, nicht alt zu sein. Sie entwickelt zu diesem Zweck unauffällige kognitive Strategien, um die untrüglichen Anzeichen des Alterns beiseitezuräumen.
    »Ich hatte schon immer ein schlechtes Namengedächtnis.«
    »Ich musste schon immer alles kontrollieren, deswegen schau ich heute wie damals dreimal nach, ob der Herd aus ist, bevor ich das Haus verlasse.«
    »Schon meine Mutter hat sich beschwert, dass ich immer zu langsam unterwegs bin.«
    Solche praktischen Handreichungen zur täglichen Bewältigung unvermeidbarer Erfahrungen sind mir nicht mehr zu Diensten. Außerdem kommt mir die unbarmherzige Gegnerin aller Verdrängungen häufig in die Quere: die Realität.
    Neulich habe ich meine Tochter durch Berlin chauffiert. Während ich ihr dies und jenes von dem, was draußen an uns vorbeizog, kundig erklärte, unterbrach sie mich plötzlich: »Wollen wir hier übernachten?«
    »Bitte was?«
    »Lass mich ans Steuer, sonst wachsen wir hier fest!«
    »Ich habe einen bekannt zügigen Fahrstil«, verteidigte ich mich.
    »Nein, du wirst alt«, erwiderte sie knapp.
    Sie übernahm das Steuer und blieb wenige Meter weiter, auf Höhe einer der zahlreichen Berliner Parkanlagen, wegen einer Baustelle in einem Stau stecken.
    »Sollen wir hier übernachten?«, wollte ich mich revanchieren, ließ es dann aber bleiben und blickte in den Park. Die Luft war klar, Bäume und Büsche waren grün und die Blumen bunt. In einem trockenen Springbrunnen feierte eine Handvoll ausgelassener Kinder mit Luftballons und Mohrenköpfen Geburtstag. Ein einsamer Inline-Skater versuchte mit unsicheren Bewegungen rückwärts zu fahren. Auf einer Bank saß ein betagtes Paar in jenes geruhsame Schweigen vertieft, das ein langes gemeinsames Leben zur Voraussetzung hat.
    Ich entschied mich, den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen, stieg aus, ließ meine Tochter im Stau zurück und machte mich gemächlich auf den Weg, entschlossen, in Zukunft jeden Augenblick zu meinem eigenen zu machen. Und da müssten doch noch einige zu haben sein.

     
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