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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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dabei nicht um »besser« oder »schlechter«, »höher« oder »tiefer«. Nein – ich sperre mich instinktiv und ohne Anlass gegen den Gedanken, dass wir außer dem Geburtsdatum etwas gemeinsam haben könnten.
    Unlängst saß ich mit einem Bekannten in einer Gastwirtschaft, als das Gespräch auf den kleinen, unscheinbaren Rentnerpass kam, den wir erhalten hatten. Er verhilft uns bei Ausstellungen und anderen öffentlichen Veranstaltungen zu günstigeren Eintrittspreisen. Schnell stellte sich heraus, dass wir ihn nur selten in Anspruch nehmen.
    »Ich will mich nicht ständig als Rentner ausweisen. Da zahl ich lieber die paar Euro mehr.«
    »Ich habe ihn vor Kurzem in der Alten Nationalgalerie vorgezeigt, da wollte die Kassiererin meinen Personalausweis sehen, weil sie nicht glauben konnte, dass ich bereits über fünfundsechzig bin.«
    »Gutes Gefühl.«
    »Sehr gutes Gefühl.«
    Er deutete unversehens auf eine Gruppe Gleichaltriger, die im Hintergrund saßen. »Findest du, dass ich bereits zu denen gehöre?«
    Ich sah mir die kleine Gesellschaft an und konnte keinen Unterschied zwischen ihnen und meinem Bekannten entdecken – und mir ebenfalls nicht, was das betrifft. »Da werden noch einige Jahre ins Land gehen müssen, bevor es soweit ist«, schenkte ich ihm die Antwort, die er gern hören wollte.
    Wir Alten haben ein unfehlbares Gespür für das Geburtsdatum der anderen und lassen uns nur selten von gut erhaltener Hülle täuschen. Man fühlt sich dem Alten am Nachbartisch stets überlegen, dessen Falten, schleppender Gang und unreinlicher Verzehr eines Stücks Marmorkuchen genau registriert werden. Diese Distanz zum alten anderen ist jedoch Verrat an der eigenen Kohorte. Dahinter verbirgt sich der größte Fehler, den man im Alter machen kann: der, weiterhin die Elle der Jugendlichkeit anzulegen. Ich weiß das in der Zwischenzeit und bin bereit, mich fügsam in das graue Heer einzureihen.
    Bislang hatte ich stets angehäuft: Bücher, Bekanntschaften, Eindrücke und Erfahrungen. In Zukunft werde ich Abschied und Trennung lernen müssen. Einige Weggefährten werden mich verlassen, manche Anstrengungen werden mir zu viel, und etliche Erfahrungen werden mir nicht mehr zugänglich sein. Ich werde mein Leben vereinfachen, solange ich noch dessen Herr bin.
    Das Zurücklassen verändert seinen Charakter im Fluss der Zeit. Bislang war jede Hinterlassenschaft eine Stufe zu einem höheren Ziel. Man ließ die Schule hinter sich, um zu studieren, nahm von der Universität Abschied, um Karriere zu machen, und verließ ein Landesstudio, um sich in der Hauptstadt durchzusetzen. Jede Hinterlassenschaft war Markstein für zukünftigen Gewinn. Nun kehren sich die Verhältnisse um, und jede Hinterlassenschaft markiert Verlust.
    Dem Abschied gesellen sich Trauer und Resignation hinzu. Letztere wird im Alter, als Einsicht in unvermeidlichen Verzicht, zur Tugend. Die Trauer um den Verlust eines nahen Menschen war einst seltene Ausnahme, im Alter wird sie zum Dauerzustand. Man wird zu einem Überlebenden in Permanenz und wird lernen müssen, Trauer leichter zu leben und zu nehmen, damit die Verluste, die ohnehin nicht zu vermeiden sind, erträglich bleiben.
    Ich werde Abschied von Illusionen nehmen müssen, jener beglückenden Differenz zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. Unsere Nachkommen ergreifen jetzt Besitz von ihnen. Im Alter gehen uns die Hoffnungen und damit auch die Illusionen aus. Sie aber sind der Stoff, aus dem Tagträume gewebt waren. Auch die werden mir abhanden kommen. Das ist ein herber Verlust, denn Tagträume sind mir ein Leben lang liebe und wichtige Begleiter gewesen.
    Ich werde schleunigst meine Bezugsgruppe wechseln müssen. Das sind jene Menschen, an denen man sich misst und Erfolg und Scheitern bewertet. Sie müssen in einem bekömmlichen Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten stehen. Bislang waren das Kollegen, die Freunde vom Fußball im Park und die Gäste beim deutschen Fernsehpreis. In Zukunft werden es Mitglieder der Anfängergruppe Golf in Wilkendorf sein.
    Bei meinen Bemühungen, mein Leben neu zu ordnen, Überflüssiges zu entsorgen und bislang unbekannte Elemente einzuarbeiten, riet mir eine alte Freundin, eine Liste derjenigen Momente, Empfindungen und Erfahrungen anzulegen, die mich in der Vergangenheit froh gestimmt hatten. Sie sprach indes von »Glück«, einem Anspruch, von dem ich im Alter, Schopenhauer folgend, Abstand halte: »Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und das ist der, dass wir
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