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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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informierte sie uns knapp, »ihre letzten Worte waren: Sag ihnen, sie sollen nach Hause gehen.«
    Die Abstimmung über den Verfassungszusatz gewannen am nächsten Tag seine Gegner. 1998 jedoch stand das Thema wieder auf der Tagesordnung einer Volksabstimmung. Diesmal waren die Befürworter erfolgreich, denn das Versprechen der Gegner und Kirchen, sich in Zukunft mehr um die Alten und Siechen zu kümmern, war nach der ersten Abstimmung bald wieder in Vergessenheit geraten.
    Die moderne Medizin hat im Zug erfolgreicher Forschung nebenbei das endlose Sterben eingeführt. Sie hat Situationen geschaffen, die vorher nicht vorstellbar gewesen sind – Menschen, die bewusstlos durch künstliche Ernährung jahrelang am Leben gehalten werden. Als Folge müssen in naher Zukunft die Regeln zum Verhältnis von Sterben und Selbstbestimmung neu bedacht und verabschiedet werden.
    Tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen beginnen in der Regel unauffällig, wie kleine Rinnsale, die erst nach langem Lauf und dem Zusammenfluss mit anderen zu einem unaufhaltsamen Strom werden. Die Debatte um den Freitod hat auf vielen Ebenen begonnen, vorsichtig und häufig in fremdem Gewand.
    Patientenverfügungen, das Verfassungsgerichtsurteil zur Sterbehilfe vom Sommer 2010, die Hospizbewegung und Entwicklungen im Ausland verschieben die Grenzen nach und nach hin zur aktiven Sterbehilfe. Die Aufregung um Ärzte und Verwandte, die beim Sterben nachgeholfen haben, hält sich mittlerweile in verdächtig engen Grenzen. Jüngst sind Filme gedreht worden, in denen die Protagonisten aktiver Sterbehilfe ungeschoren davongekommen sind.
    Sterben und Tod, die bisher für jedermann nach demselben Gebot, nämlich Leiden bis zum Ende, abliefen, werden durch die Möglichkeit des assistierten Suizids privatisiert und individualisiert und folgen damit dem großen Thema meiner Generation, dem der Befreiung. Es geht, neben der Flucht vor Pein, auch um das Recht, im Vollbesitz unserer Kräfte Abschied zu nehmen, den Zeitpunkt unseres Todes selbst zu bestimmen und die Hoheit über die Erinnerung an uns zu behalten.
    Eine kraftvolle Mischung aus Unlust am Leid, medizintechnischem Fortschritt, ökonomischem Druck und Gegnerschaft zu staatlicher Bevormundung hat nach und nach eine Dynamik in Gang gesetzt, hinter der sich das Organisationspotenzial meiner Generation unter Umständen nur noch symbolisch zeigen muss, um unser letztes Gefecht zu unseren Gunsten zu entscheiden.

Im neuen Leben – eine vorläufige Bilanz
    » Wer spricht von Siegen? Übersteh’n ist alles.«
    RAINER MARIA RILKE
    Vier Jahre ist es nun her, seit ich zum letzten Mal über den ausgetretenen blauen Teppich des ARD -Hauptstadtstudios den Weg zum Ausgang genommen habe. Ich bin nie wieder zurückgekehrt. Man hat mich indes auch nicht vermisst, entnehme ich beiläufigen Bemerkungen bei den seltenen, meist zufälligen Kontakten mit Kollegen, die noch vor Ort sind.
    Als ich am ersten Morgen in meinem neuen Leben aufwachte und neugierig und erwartungsvoll um mich blickte, schien erst einmal alles beim Alten zu sein, mit Ausnahme des Berufs, der mir über Nacht abhandengekommen war. Damit aber hatte ich gerechnet. Ich war dann lange liegen geblieben und überlegte, warum ich aufstehen sollte. Mein Leben erschien mir plötzlich wie ein Haufen bunter Herbstblätter, in die der Wind gefahren war, und ich sah vorerst tatenlos zu, wie sie die Straße hinabwirbelten.
    Im Lauf der nächsten Tage und Wochen begriff ich, dass ich mein Dasein aus vielen Einzelteilen neu zusammensetzen musste. Ich würde für längere Zeit zu einer Baustelle von stattlichem Ausmaß und unterschiedlichsten Herausforderungen werden. Von Beginn an stand, trotz einiger Sehnsuchtsschübe, fest, dass ich kein Leben in der Fremde oder in neuer Berufung suchen würde. Dazu fehlten mir Perspektive, Kraft und verlässliches Fernweh. Also begab ich mich auf die Suche nach anderen Lebensformen, wobei es vor allem um Orientierung im Nahbereich ging.
    Als Erstes überlegte ich, wer ich in Zukunft sein wollte, wenn mich jemand danach fragen würde. Das hat bislang keiner getan, darum sei es hier verraten: Ich wollte als schonungsloser Realist nach innen und zurückhaltender Müßiggänger nach außen meine Tage glücklich vergeuden und mich in skeptischer Gleichgültigkeit treiben lassen. Mein Vorbild waren die Stoiker, die hoff-
nungslos, aber ohne zu verzweifeln, ihr Leben zu Ende lebten. Wobei ich in weiter Ferne bereits
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