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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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Unsere Ideale!« Alte Menschen werden diesen Prozess unschwer wiedererkennen.
    Die Eltern der beiden, die gelegentlich um Zwieback betteln, leben in zwei Abfalltonnen. Wir sehen nur ihre Köpfe, denn beide haben ihre Beine bei einem Fahrradunfall verloren. Adorno notiert dazu in seinem »Versuch, das ›Endspiel‹ zu verstehen«: »Das Endspiel ist die wahre Gerontologie. Die Alten sind nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie nicht mehr leisten, überflüssig und wären wegzuwerfen«, und weiter: »Das Endspiel schult für einen Zustand, wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten der großen Mülltonnen den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin zu finden. Der natürliche Zusammenhang des Lebendigen ist zum organischen Abfall geworden.«
    Die französische Philosophin und Essayistin Simone de Beauvoir, selbst schon in die Jahre gekommen, bestätigt fünfzehnJahre später in einem langen Text mit dem Titel Das Alter die niederschmetternden Einsichten, die sie bereits Jahre vorher inihrem Erzählband Eine gebrochene Frau , in einem Gesprächzwischen der Ich-Erzählerin und deren Mann, gewonnen hatte: »›Man verliert (im Alter) viel mehr, als man gewinnt. Offen gestanden weiß ich gar nicht, was man gewinnt. Kannst du mir das sagen?‹
    ›Merkwürdig, wir stimmen in allen Punkten überein, nur nicht in diesem: Ich begreife nach wie vor nicht, was ein alternder Mensch verliert.‹
    Er lächelte. ›Die Jugend.‹
    ›Kann man die zu den Gütern des Lebens rechnen?‹
    ›Die Jugend und das, was die Italiener la stamina nennen: der Schwung, das Feuer, die Liebesfähigkeit, die Schaffenskraft. Wer das verliert, hat alles verloren.‹«
    Wer alles verloren hat, dem bleibt nicht viel, und die naheliegende Aufforderung, von vorn zu beginnen, verbietet sich angesichts der Geburtsdaten der Betroffenen.
    In ihrem Text dringt Simone de Beauvoir tiefer und sorgfältiger als alle Autoren vor ihr in die brüchigen Poren, abstoßenden Details und körperlichen Verwerfungen des Alterns ein und legt unnachsichtig seine unschönen Seiten frei. Nach einer breit angelegten Analyse zur Rolle alter Menschen in Vergangenheit und unterschiedlichen Gesellschaften kommt sie in Bezug auf den modernen Westen zu der Einsicht: »Für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt.« Die betagten, nutzlosen Kostgänger würden gnadenlos marginalisiert. Zum körperlichen Verfall käme die gesellschaftliche Ausgrenzung. Das Altern in modernen Zeiten wird endgültig zur Katastrophe.
    »Sie schreit, sie heult so, wie früher die Klageweiber geheult haben … Sie geht mit allem bis an die Grenzen des Erträglichen, und was soll es sie auch kümmern, wenn jemand bei ihren Sätzen bis ins Mark erschrickt und kaum noch wagt, in den eigenen Spiegel zu blicken«, reagierte eine Leserin erschüttert.
    George Tabori, der einiges vom Altwerden verstand, notierte später wütend: »Die Freuden des Alternden werden von Terroristen wie Mme. de Beauvoir in ihrem notorischen Buch über das Alter verbittert. Außer den Fakten stimmt nichts daran. Mit der eines de Sade würdigen Lust zählt Madame alle Katastrophen auf, die das alte Fleisch befallen. So verbannt sie uns alte Leute in das Ghetto der Fäulnis. Als wäre der Verfall nicht von Geburt an unser täglich Los.«
    Nach der ersten Aufregung und empörten Gegenstimmen legte man das Buch wieder beiseite, verdrängte seine Botschaften und vergaß es.
    Der Übergang ins Alter ist stets eine lebhafte, chaotische Phase voller Überraschungen, unerwarteter Ereignisse und neuer Eindrücke. Manches ist beängstigend, anderes verheißungsvoll, vieles einfach nur neu. Es ist dies eine bewegende und schwierige Zeit in jedem Leben, aufregender jedenfalls als der ruhige, eingeschliffene Gang des Geschehens gegen Ende einer Berufslaufbahn. Zahlreiche Entscheidungen müssen getroffen werden. Verpasst man den rechten Zeitpunkt, nimmt das Leben sie selbst in die Hand. Die Sache wird ernst und verbindlich. Man muss sich unsentimental und oftmals schonungslos sein Leben Stück für Stück neu zusammensetzen. Das gilt vor allem für die Töchter und Söhne der Moderne, die stets bemüht gewesen waren, ihr Leben unabhängig von Schicksal oder Schöpfer zu füh-
ren.
    Das ist guter Nährboden für das Bedürfnis nach Wegweisern in Form von gedruckten Ratgebern, die – eine Generation später, um die Wende zum 21.
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