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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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jungen Leuten gute Dienste erwies, nicht jedoch Senioren, die mit Gehhilfen unterwegs sind.
    Einer rätselhaften Neigung folgend, drängten die Alten stets gemeinsam in die kleine Aufzugskabine, gerade so, als ob sie alle zur selben Stunde Unaufschiebbares zu verrichten hätten. Von Gelassenheit und Altersweisheit keine Spur. Mir hat keiner die Ursache dieser lästigen Gleichzeitigkeit, die jeden Tag aufs Neue zu Zank und Chaos führte, erklären können.
    »Warten Sie, die Frau Kohrs muss erst raus!«
    »Wo ist die?«
    »Hinten.«
    »Da ist sie gut aufgehoben, wenn sie als Erste raus muss.«
    »Ich kann nicht, die Frau Eberts steckt mit ihrem Rollator in meinem!«
    »Frau Eberts, ziehen Sie Ihren halt zurück!«
    »Geht nicht, ich steh schon mit dem Rücken zur Wand!«
    »Vorsicht, die Tür geht zu!«
    »Kann sich einer in die Lichtschranke stellen?«
    »Was ist das?«
    »Wo ist die?«
    »Schreien Sie nicht so laut!«
    »Ich schrei nicht. Sie haben Ihr Hörgerät falsch eingestellt!«
    »Frau Schmitz, passen Sie doch auf, in meiner Tasche sind Eier!«
    »Warum hängt die auch seitlich!«
    »Weil an dem Korb die rechte Schraube fehlt.«
    »Ich will raus!«
    »Jetzt warten Sie doch!«
    »O Gott! Da hinten kommt der Höhner.«
    »Haben Sie mitbekommen, wie dem gestern besoffen die Hose runtergerutscht ist?«
    »Da schauen Sie natürlich hin!«
    So geht das täglich hin und her, während die alten Leute in panischer Angst, den Ausstieg zu verpassen, an ihren verkeilten Rollatoren zerren.
    Weitere Erfahrungen habe ich während meiner Berufsjahre in den USA gesammelt, als ich die Seniorenresidenz »Steps to Heaven« südlich von Orlando (Florida) besuchte. Steve Hodges, ein Heimbewohner, der für Gästebetreuung und Außendarstellung der Einrichtung verantwortlich war, führte mich durch die zweistöckige Anlage, die sich ausufernd zwischen Bougainvilleen, Palmen und sattem Rasen hinzog. Ich plante damals einen Film über Sterbehilfe und wollte mich in den folgenden Tagen mit einzelnen Bewohnern über das Thema unterhalten. Vorläufig jedoch machte mich Steve mit dem Gelände vertraut und erklärte, dass jeder Heimbewohner nach Maßgabe seiner Kräfte in Verwaltung und Küche, bei Gartenarbeit und Sterbebegleitung mithelfen müsse, um die eigene und die Lebensqualität der Mitbewohner zu erhöhen und die Kosten für die Allgemeinheit zu senken.
    In dieser Einrichtung habe ich erfahren, dass es ein vergnügliches Leben im Altenheim geben kann und dass dessen Architektur sich nicht an der von Gefängnissen orientieren muss. Nicht die Altenheime, sondern ihre Unwirtlichkeit sind das Problem.
    Und schließlich war ich Zeuge des langen Abschieds meiner Mutter. Sie kam aus einem guten Stall, wie man in ihren Kreisen zu sagen pflegte, und aus einer Zeit, in der die häuslichen Angestellten noch Gesinde hießen. Sie lehrte mich Bridge, den Unterschied zwischen Weißwein- und Rotweingläsern und den Gebrauch eines Austernmessers und entließ mich ins Leben mit dem Hinweis: »Vorne ist Platz, hinten drängeln sich die kleinen Leute.« Eine Einsicht, die zwar etwas altertümlich daherkommt, aber durchaus gute Dienste leisten kann.
    Als sie mit Ende Siebzig aus freien Stücken in ein Heim zog, wollte sie sich dort in der kleinen Bibliothek nützlich machen. Die Bitte wurde ihr abgeschlagen. Sie hätte genug gearbeitet und nun das Recht und vermutlich auch die Pflicht, in ihrem gemütlichen Lehnstuhl zu sitzen und auf das Ende zu warten. Das tat sie dann auch.
    In den letzten Jahren verlor sie ein wenig den Überblick und entwickelte eine dadaeske Listigkeit. Eines Tages, als ich sie am späten Vormittag besuchte, saß sie aufrecht im Bett und las verkehrt herum die Frankfurter Allgemeine .
    »Mama, du liest Zeitung, recht so!«
    »Auch eine alte Frau darf erfahren, was vor sich geht.«
    »Aber du kannst doch kein Wort entziffern, wenn die Zeitung auf dem Kopf steht.«
    »Und wenn schon – wen interessiert, was ich noch weiß?«
    Von ihr habe ich viel über Gelassenheit und jene kalte Illusionslosigkeit gelernt, die Agnostikern angesichts der Vergänglichkeit eigen sein kann.
    Ich habe mich schwergetan mit diesem Buch. Ständig kam Wichtiges dazwischen. Ich begann plötzlich, überaus gewissenhaft Tageszeitungen und Wochenmagazine zu lesen, und schaute die Fernsehseiten sorgfältig auf interessante Sendungen durch. Bei Telefonanrufen verzichtete ich fortan auf die Überprüfung der Teilnehmernummer, bevor ich den Hörer abnahm, und

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