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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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persönliche Grille, die unberechenbar kreuz und quer durch die Gefilde streift.
    Zahlreiche Einsichten verdanke ich meiner Mutter, die ich in einem Heim für Gutbetuchte bis in ihre letzten Stunden begleitete. Ich habe außerdem in den Vereinigten Staaten recherchiert, wo zukünftige Entwicklungen oft vorweggenommen werden, und mich im Rahmen eines Filmprojekts für drei Monate in der Seniorenresidenz »Rosenpark« einquartiert. Diese Einrichtung liegt in Zollstock, einem Kölner Arbeiterviertel. Der lang gestreckte, in sanftem Gelb getünchte Bau aus solidem, hellhörigem Beton ist zehn Stockwerke hoch und beherbergt etwa dreihundertfünfzig Mieter in Apartments verschiedener Größe. Jede Einheit ver-
fügt über einen Balkon. An dessen Begrünung lassen sich treffsichere Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Mieter ziehen.
    »Neu Zugezogene machen aus ihren Terrassen bunte, üppig blühende Oasen, durchsetzt mit Nutzkräutern. Das lässt dann mit der Zeit nach. Wenn nur noch einzelne verdorrte Zweige übrig geblieben sind, die zu entsorgen sich keiner mehr die Mühe macht, dann weiß man, dass es dem Ende zugeht«, erläutert mir eine Heimangestellte den subtilen Zusammenhang zwischen Geranienpracht und körperlichem Verfall.
    Ich bin furchtsam und zögerlich eingezogen. Die tägliche, oft trostlose Praxis des Alterns wurde freilich übertroffen durch die Reaktionen von Freunden und Bekannten, denen ich von meinem Vorhaben erzählte. Die einen glaubten, ich hätte den Verstand verloren, mich freiwillig solchen Erfahrungen auszusetzen. Andere wiederum hielten mich für einen Helden, der das Wagnis eingeht, unbewaffnet in die Höhle des Löwen einzudringen oder, wie einer es plastisch formulierte, mit einem Zahnstocher bewaffnet in den Irakkrieg zu ziehen. Interessierte Nachfragen und neugieriges Insistieren waren die seltene Ausnahme.
    Ich habe in dieser Zeit oft überlegt, was das wohl für ein fremder und gefährlicher Volksstamm sein mochte, der da gleichermaßen Entsetzen und Furcht hervorrief. Es sind unsere Eltern und Großeltern, die wir in Heime abgeschoben haben, oft in der Hoffnung, dass sie dort still und unauffällig ihr Leben zu Ende leben.
    Ich habe mit ihnen geschwätzt, gelitten, gelacht und abends manche Flasche Rotwein geleert. Sie haben mich ohne Scheu am Älterwerden in seinen ruhigen und tröstlichen Momenten, aber auch in qualvollen Augenblicken teilnehmen lassen. Wir haben über das Fernsehprogramm geschimpft, das Essen und den ständig überfüllten Aufzug. Wir waren uns einig, dass Alter weder gnadenvoll noch erstrebenswert ist, sondern eine unvermeidbare Pflicht, die man zu ertragen und zu bewältigen hat. Wir haben ausgiebig von der Vergangenheit berichtet, aber die Zukunft vermieden und keine Pläne mehr geschmiedet. Wir waren froh, in der Gegenwart vorläufig ein Auskommen zu haben.
    Das waren tapfere Menschen, die ohne zu klagen die oft elenden letzten Jahre hinter sich brachten. Wer stille Helden sucht, findet sie in diesem wie in jedem anderen Altenheim. Sie haben mich viel über menschliche Würde gelehrt, aber deren rätselhaftes Auftreten angesichts oft unvorstellbaren Leidens auch nicht erklären können.
    Die Tapferkeit anderer angesichts von Leid und Tod tröstet und stärkt: »Was die krebskranke alte Frau Kehrer aus dem dritten Stock kann, die immer noch lacht und guter Dinge ist, das kann ich auch!«, behauptete mein Nachbar, der links von mir wohnte, entschlossen, als wir zur späten Stunde zusammensaßen.
    Was im Augenblick des Todes geschieht, wissen wir natürlich nicht, und es lohnt auch nicht, darüber nachzudenken, selbst wenn die Sprache Worte dafür hat. Aber das Sterben kennen wir. Selbst wenn es schmerzvoll ist, entwickeln die Betroffenen häufig eine Haltung von erschütternder Würde und Gelassenheit während der Strapazen der letzten Wochen, Tage und Stunden. Zum Ende wirken sie oft wie befreit und empfinden Genugtuung, die große, abschließende Herausforderung bewältigt zu haben. Thomas Mann notiert verunsichert angesichts des eigenen Alters: »Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.« Es ist da etwas in uns verborgen, das ganz gegen Ende zum Vorschein kommt. Wir wissen nicht genau, was es ist, denn die Eigentümer haben das Geheimnis stets noch mit in ihr Grab genommen.
    Der »Rosenpark« war ursprünglich einmal als Studentenheim geplant gewesen. Folglich wurde in dem engen Treppenhaus ein schmaler Aufzug eingebaut, der
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