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Opfer

Opfer

Titel: Opfer
Autoren: Cathi Unsworth
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    DU BIST SCHON TOT
    März 2003
    Sie hatten sie tief im Wald versteckt, weitab vom Rest der Welt. Fast zwanzig Jahre lang war sie schon hier, aber das hasserfüllte Geflüster war noch immer nicht verstummt und schwoll jedes Mal, wenn ihr Name fiel, zu lautem Geschrei an. Immer wenn ein anderer Fall Schlagzeilen machte, bei dem sich junge Leute gegenseitig umgebracht hatten.
    Die Böse Hexe des Ostens wurde sie in der Boulevardpresse genannt. Killer-Corrine , Hohepriesterin eines Satanskults, in dessen todbringende Klauen im Sommer 1984 die Jugendlichen eines Küstenstädtchens in Norfolk geraten waren. Sonderling, Übeltäterin. Scheißgrufti, sagten die Einheimischen. Sie hatten ja schon immer gewusst, dass mit Corrine Woodrow etwas nicht stimmte. Nicht einer zweifelte an Corrines Schuld und an der Notwendigkeit einer harten und ewig währenden Strafe.
    Sperrt sie weg.
    Sean Ward hatte alle Akten und Zeitungsartikel über den blutigen Sommer 1984 gelesen, die er finden konnte. Er hatte das Gesicht einer Jugendlichen mit schwarzer Spike-Frisur und kurz rasierten Seiten vor sich, mit dickem Kajal um die so genannten »Augen des Bösen«. Immer wurde das Bild von ihrer Festnahme abgedruckt, niemals das von der glattfrisierten, adretten jungen Frau, die schließlich vor Gericht erschienen war. Meistens neben einem Foto der wasserstoffblonden Myra Hindley.
    Die Äste des dichten Kiefernwalds wiegten sich im Wind, und der Regen fiel schräg. Auf der Landstraße durchs tiefsteCambridgeshire hatte Shaun bisher kaum ein anderes Fahrzeug gesehen. Nur ein alter Massey-Ferguson-Traktor samt gebeugtem Fahrer mit Wollmütze war an der letzten Kreuzung vorbeigeruckelt und in einem Feldweg verschwunden. Sean stellte sich unwillkürlich vor, er habe nach Abfahrt von der M 11 irgendwann die Realität verlassen und sich in einer Sagenwelt verfahren, in der er den wilden Wald durchdringen musste, um die Feste zu erreichen, wo die Hexe gefangen gehalten wurde.
    Der Regen prasselte auf das Dach des dunkelblauen Peugeot 207, und die Scheibenwischer schlugen hin und her. Das Radio hatte er schon lange abgeschaltet, denn die Einsamkeit und das schlechte Wetter waren ihm lieber als die viel dunkleren Wolken eines drohenden Krieges im Irak, die gerade die Schlagzeilen füllten: George Bush und Tony Blair forderten Saddam auf zurückzutreten, wussten natürlich, dass er das nie tun würde, und drängten auf Konfrontation um jeden Preis.
    Sean hatte genug von Konfrontationen. Er war ein Detective Sergeant der Londoner Metropolitan Police gewesen, als sein Job ihn fast umgebracht hätte – der jugendliche Dealer war zum Glück nicht in der Lage gewesen, die Maschinenpistole mit tödlicher Präzision zu bedienen. Sean hatte ein knappes Jahr in verschiedenen Krankenhäusern und Reha-Zentren verbracht und wurde nachts vom Blick des jungen Mannes heimgesucht.
    Jetzt hatte er einen neuen Job, der dem alten aber recht ähnlich war. Seit seinem Vorruhestand bei der Polizei war er jetzt das Einzige, was ein Ex-Bulle noch werden kann: Privatdetektiv. Davor hatte ihm gegraut, er hatte mit einer endlos langweiligen Reihe von Ehebruchs- und kleineren Betrugsfällen gerechnet – was ihm aber immer noch besser erschienen war als ein Leben als Sozialarbeiter oder Gefängniswärter oder, am schlimmsten, ein tatenloses Dahinvegetieren auf dem Sofa vor dem Fernseher, ein Dasein ohne Sinn.
    Überraschenderweise gab es jetzt aber Detektivarbeit, die eher seinen Fähigkeiten entsprach. Die Fortschritte in Chemieund Physik hatten ganz neue Möglichkeiten eröffnet; die DNA-Technologie hatte eine boomende Branche hervorgebracht, in der Anwälte gutes Geld zahlten.
    Ungeklärte Fälle.
    Nachdem Sean also von einem straffälligen Teenager beinahe niedergestreckt worden war, war er jetzt auf dem Weg zu einem anderen – zumindest war Corrine Woodrow bei ihrer Verhaftung einer gewesen.
    Hinter dieser zweiten Berufung gegen Woodrows Sicherungsverwahrung steckte Janice Mathers. Sie gehörte zu jener Art Anwalt, die das Blut von Seans ehemaligen Kollegen zum Kochen brachte – sie war eine hippe Linke, die damit bekannt geworden war, unbeliebte Fälle wieder aufzurollen, um so die vermeintlich grassierenden Justizirrtümer aufzudecken. Sie hatte Kleidungsproben vom Tatort noch einmal untersuchen lassen, und das neue Cluster-DNA-Verfahren hatte Beweise zutage gefördert, die Zweifel an Corrines Einzeltäterschaft aufwarfen.
    Jemand anders hatte dort seinen genetischen
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