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Scharade der Liebe

Titel: Scharade der Liebe
Autoren: Catherine Coulter
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Carlisle Manor
    In der Nähe von Folkstone
    29. März
    Es gab nichts mehr zu sagen. Dieses verdammte Mädchen. Er zitterte vor Wut über die undankbare kleine Hexe und konnte sich kaum noch beherrschen. Er hob die Hand, um sie zu schlagen, besann sich dann aber. »Wenn ich dich schlage, merkt Carlton es vielleicht, und dann will er dich nicht mehr.«
    Sie wimmerte leise. Den Kopf hielt sie gesenkt, und ihre Haare hingen verschwitzt und strähnig um ihr Gesicht.
    »Bist du endlich still? Ich hätte nie gedacht, dich einmal stumm zu erleben! Es ist wohltuend, nicht mehr deinem Gejammer lauschen zu müssen. Schweigen und Unterwürfigkeit stehen Frauen wohl an, vor allem dir, obwohl ich es bei dir jetzt zum ersten Mal erlebe. Nun, vielleicht ist es ja überstanden, was? Ja, du hast anscheinend endlich aufgegeben. Du wirst dich mir nicht länger widersetzen.«
    Sie sagte kein Wort. Als er ihr Kinn packte und ihren Kopf nach oben zwang, standen Tränen in ihren Augen. Seine Miene blieb finster. Eindringlich starrte er sie an, immer noch außer Atem von seinem wüsten Geschrei. Sein Gesicht war jedoch nicht mehr so gerötet wie noch vor einer Minute, und seine Stimme zitterte auch nicht mehr vor Wut.
    »Du wirst Sir Carlton Avery heiraten. Er kommt morgen früh zurück. Du wirst ihn scheu anlächeln und ihm sagen, dass es eine Ehre für dich ist, seine Frau zu werden. Ich habe ihm meinen Segen gegeben. Die Heiratsvereinbarungen sind getroffen. Alles ist geregelt. Du wirst mir gehorchen, oder es wird dir sehr Leid tun.«
    Er packte wieder ihr Kinn, sah, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen, und lächelte. »Gut«, sagte er. »Heute Abend wirst du baden und dir die Haare waschen. Du siehst aus wie eine Schlampe aus der Drury Lane.« Vor sich hin summend, verließ er ihr Schlafzimmer. Weil sie jedoch nicht vergessen sollte, dass er es ernst meinte, schlug er heftig die Tür hinter sich zu. Sie hörte, wie er den Schlüssel im Schloss umdrehte und wie sich seine schweren Schritte über den Korridor entfernten. Dann holte sie tief Luft, blickte nach oben und sagte: »Danke, Gott. Danke, Gott.«
    Er hatte vergessen, ihr wieder die Hände zu fesseln.
    Sie blickte auf die hässlichen, rauen Stellen an ihren Handgelenken und begann ihre Hände zu reiben, damit das Gefühl in sie zurückkehrte. Dann band sie die Fesseln um ihre Knöchel los und erhob sich langsam von dem Stuhl, an dem sie seit drei Tagen wie eine Verbrecherin festgebunden gewesen war. Sie erleichterte sich und stürzte rasch zwei Gläser Wasser aus der Karaffe hinunter, die auf ihrem Nachttisch stand. Nach und nach wurde ihr Atem ruhiger. Sie war sehr hungrig. Er hatte ihr seit gestern Abend nichts mehr zu essen gegeben.
    Aber er hatte vergessen, ihr wieder die Hände zu fesseln. Vielleicht hatte er es ja gar nicht vergessen. Vielleicht hatte er geglaubt, dass er endlich ihren Willen gebrochen hatte und es deshalb keine Rolle mehr spielte, ob ihre Hände gefesselt waren. Nun, sie hatte ihr Bestes getan, um ihn in dem Glauben zu lassen. Ihre Zunge im Zaum zu halten hatte sie einiges gekostet. Die Tränen hervorzudrücken war nicht so schwer gewesen.
    Würde er noch einmal zurückkommen? Dieser Gedanke setzte sie rasch in Bewegung. In den nächsten Minuten, wenn möglich noch schneller, musste sie verschwunden sein.
    Sie hatte in den langen Stunden der vergangenen drei Tage oft darüber nachgedacht, hatte alles sorgfältig geplant und sich genau überlegt, was sie in dem kleinen, leichten Koffer mitnehmen konnte.
    Die nächsten zwei Minuten verbrachte sie damit, die Enden ihrer beiden Laken zusammenzuknoten, dann ließ sie sie aus dem Fenster im zweiten Stock herab, wobei sie inständig hoffte, dass sie durch die schmale Öffnung passen würde. Wahrscheinlich war sie jetzt dünner als vor drei Tagen. Sie hatte während ihrer Gefangenschaft immer wieder auf das Fenster gestarrt, weil sie wusste, dass es ihr einziger Fluchtweg war. Sie würde sich hindurchquetschen müssen. Sie hatte überhaupt keine andere Wahl.
    Es gelang ihr mit Mühe. Als sie sechs Fuß über dem Boden baumelte, blickte sie noch einmal auf ihr Schlafzimmerfenster und lächelte. Dann sprang sie und rollte sich auf dem weichen, abschüssigen Boden ab. Sie schüttelte sich, stellte fest, dass sie nur ein paar Schrammen abbekommen hatte, und warf einen letzten Blick auf ihr Zuhause, das im strahlenden Schein des Halbmondes da stand: Carlisle Manor, das einst ihrem Vater, Thomas Levering Bascombe,
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