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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Autoren: Kai Meyer
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Eis und Tränen
    Die Pyramide erhob sich aus hohem Schnee.
    Um sie herum erstreckte sich die ägyptische Wüste, begraben unter dem Mantel einer neuen Eiszeit.
    Ihre Sandhügel waren steif gefroren, ihre Dünen zu Verwehungen aus Schnee aufgetürmt. Die Glutgeister von einst tanzten als Eiskristalle über die Ebene, kreisende Windhosen, die sich ein paar Mal um sich selbst drehten und kraftlos wieder zusammensanken.
    Merle kauerte im Schnee, auf einer der oberen Stufen der Pyramide. Junipas Kopf ruhte in ihrem Schoß. Das Mädchen mit den Spiegelaugen hatte die Lider geschlossen, zuckend, als kämpfte dahinter ein Paar Käfer darum, ins Freie zu gelangen. Eiskristalle hatten sich in Junipas Wimpern und Brauen verfangen und ließen beide noch heller erscheinen. Mit ihrer weißen Haut und dem glatten, hellblonden Haar wirkte sie wie eine Puppe aus Porzellan, auch ohne den Raureif, der allmählich beide Mädchen bedeckte: zerbrechlich und ein wenig traurig, als wäre sie in Gedanken stets bei einem tragischen Verlust in der Vergangenheit.
    Merle fror erbärmlich, ihre Glieder schlotterten, ihre Finger bebten, und jeder Atemzug fühlte sich an, als saugte sie geraspelte Glassplitter in ihre Lunge. Ihr Kopf tat weh, aber sie wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder an dem, was sie während ihrer Flucht aus der Hölle durchgemacht hatten.
    Eine Flucht, die sie geradewegs hierher geführt hatte.
    Nach Ägypten. In die Wüste.
    Zum ersten Mal seit der letzten Eiszeit waren Sand und Dünen unter einer meterhohen Schicht aus Schnee begraben.
    Junipa murmelte etwas, ihre Stirn legte sich in Falten, aber noch immer schlug sie ihre Spiegelaugen nicht auf. Merle wusste nicht, was geschehen würde, wenn Junipa endgültig erwachte. Ihre Freundin war nicht mehr sie selbst, seitdem man ihr in der Hölle an Stelle ihres Herzens ein Bruchstück des Steinernen Lichts eingepflanzt hatte. Zuletzt hatte Junipa versucht, Merle an ihre Gegner auszuliefern.
    Das Steinerne Licht, jene unbegreifliche Macht im Zentrum der Hölle, hielt sie fest in seinem Bann.
    Noch war das Mädchen bewusstlos, aber wenn es erwachte ... Merle mochte nicht daran denken.
    Sie hatte einmal mit ihrer Freundin gekämpft, und sie würde es nicht wieder tun. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nicht gegen Junipa, nicht gegen die Lilim unten in der Hölle, auch nicht gegen die Schergen des Ägyptischen Imperiums hier oben. Merles Mut und ihre Entschlossenheit waren aufgezehrt, und sie wollte nur noch schlafen. Sich zurücklehnen, sich ausruhen und abwarten, bis die Frostwinde sie in eisigen Schlummer wiegten.
    „Nein!"
    Die Fließende Königin riss Merle aus ihrem Dämmerzustand. Die Stimme in ihrem Kopf war ihr vertraut und zugleich unendlich fremd. So fremd wie das Wesen selbst, das sich in ihr eingenistet hatte und sie seither begleitete, jeden ihrer Gedanken, jeden ihrer Schritte.
    Merle schüttelte sich und mobilisierte ihre letzten Reserven. Sie musste überleben!
    Rasch hob sie den Kopf und blickte zum Himmel empor.
    Dort oben tobte noch immer ein erbitterter Kampf.
    Ihr Begleiter Vermithrax, der geflügelte Löwe aus Stein, focht eine waghalsige Luftschlacht mit einer Sonnenbarke des Ägyptischen Imperiums. Der schwarze Obsidian seines Körpers glühte seit Vermithrax' Bad im Steinernen Licht, als hätte man ihn aus Lava gegossen. Nun zog der Löwe leuchtende Spuren am Himmel wie eine Sternschnuppe.
    Merle beobachtete, wie Vermithrax die trudelnde Sonnenbarke abermals von oben rammte, sich an dem sichelförmigen Gefährt festklammerte und auf der Oberseite sitzen blieb. Seine Schwingen legten sich rechts und links um den Rumpf, der etwa dreimal so lang war wie eine venezianische Gondel. Unter dem Tonnengewicht des Löwen verlor das Gefährt rapide an Höhe, raste auf den Boden zu, auf die Pyramide -
    - und auf Merle und Junipa!
    Merle erwachte endgültig aus ihrer Starre. Es war, als hätte die Kälte einen Panzer aus Eis um sie gelegt, den sie jetzt mit einem einzigen Ruck sprengte. Sie federte hoch, packte die bewusstlose Junipa unter den Armen und zerrte sie mit sich durch den Schnee.
    Sie befanden sich im oberen Drittel der Pyramide. Falls der Aufschlag der Sonnenbarke das Gestein zertrümmerte, hatten sie keine Chance. Eine Lawine aus Felsblöcken würde sie mit sich in den Hohlraum im Inneren des Bauwerks reißen.
    Vermithrax blickte erstmals auf und sah, wohin der taumelnde Flug die Barke führte. Der Luftwiderstand
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