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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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so lachen müssen. Der war mit der Geige so in sie hineingekrochen ... – Und dann der Blick übers Meer, vom Zimmer aus. Hatte in dieser Nacht das Meer geleuchtet? Hatten Milliarden kleiner Leuchtfische das Meer erglühen lassen? Und als die Zeit gekommen war, hatte sie dann eben das Mädchen zur Welt gebracht.
     
    Katharina dachte, er würde vielleicht kommen und sie retten? Im letzten Augenblick?
    Dies geschah nun nicht, und sie mußte aufpassen, daß man ihr nicht auf die Hacken trat. Die KZ-Häftlinge aus der Ziegelei drängten sich an sie heran: «Frau ... Brot ... », sagten sie, und Katharina gab alles her. Diese Männer bildeten eine Phalanx gegen die andern, die auch Brot von ihr haben wollten, sie ließen niemand heran an Katharina, diese Frau hatte noch Brot ... Und erst als sie keines mehr hatte, ließen sie ab von ihr.
    «Votre cœur ... », sagte einer. War das ein gebildeter Mann?
     
    In der Johann-Gottfried-Herder-Jugendherberge wurde um sechs Uhr früh die Glocke gerührt, «Anstehen zum Kaffee- Empfang!» Im Waschraum gab es Leute, die putzten sich die Zähne, und Dr. Wagner rasierte sich. Da fühlte man sich doch gleich ganz anders ...
    Und dann holten sich die Menschen Kaffee vom Roten Kreuz, und jeder bekam vier Scheiben Brot mit Margarine. Die Kettenhunde standen am Tresen, Heil Hitler, die wollten sehen, ob sich jemand dazwischendrängt, der keine Ausweispapiere hat. Und alle Männer von fünfzehn bis siebzig holten sie heraus. Die sollten die Heimat verteidigen. Verdammt noch mal! Eine Frau schrie auf und klammerte sich an ihren Mann, aber der wurde herausgezogen, dem half es nicht, daß er ratlos um sich blickte.
    Wagner und Peter durften passieren. «Mein Junge», sagte Wagner, «ich glaube, wir bleiben zusammen. Das Schicksal meint es gut mit uns.»
    Peter mit seinem leichten Rucksack, das Mikroskop unter dem Arm, und Wagner mit dem schweren Koffer des Barons.
    Am Ausgang der Jugendherberge blies ein scharfer Wind um die Ecke. Der fuhr ihnen ins Gesicht. Die Sonne schien, aber es blies ein scharfer Wind.
    Vor der Tür stand ein kleiner Handschlitten. Der Strick wie eine Schlange im Schnee.
    Dr. Wagner stellte den Koffer drauf, sah sich um und sagte: «Los, Junge, schnell, ehe sie uns das Dings wieder abnehmen!» Und dann liefen sie, so rasch sie konnten, davon – Es geht hurtig durch Fleiß –,und Wagner fand das sogar noch lustig. «Wir haben denen eine lange Nase gedreht!» rief er. Und dann waren sie auch schon Teil der Menschenschlange, die durch den zermahlenen Schnee zwischen Wagentrümmern und Leichen in großen Schwüngen der nahen Stadt entgegenzog.
     
    Peter zog den Schlitten, und Dr. Wagner schob. «Sieh dich um, Junge», sagte Wagner. Dort oben lag sie, die Johann-Gottfried-Herder-Jugendherberge, mit ihren wehenden Fahnen, aus der heraus Menschen über Menschen quollen. Eindrucksvoll in die Gegend gestellt. Aber schon wurde «Weitergehen!» gerufen.
    Dr. Wagner hielt den Koffer auf dem Schlitten fest, wie ein Drehorgelmann sein Instrument. Es machte ihm zu schaffen, daß er so gar nichts von Herder im Kopfe hatte. Er «zermarterte sein Gehirn», wie er es bei sich ausdrückte. Es war wie verflixt. Weimar, alles gut und schön, Goethe und Schiller ... Aber kein Gedicht von Herder, kein nichts, kein gar nichts. «Der Cid», dachte er. Aber was war das noch, «Der Cid»? Was solltedas bedeuten? Früher hatte er doch immer alles so gut behalten, Gedichte zwei-, dreimal gelesen, und schon hatte er sie im Kopf. «Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ... », den halben Faust auswendig, und nun war Ebbe. Mit seiner Mutter auf so manchem Spaziergang um die Wette Gedichte aufgesagt! «Da ich ein Knabe war, rettet’ ein Gott mich oft ... » Nun spielte ihm das Gedächtnis so manchen Streich. Nun spielte es einfach nicht mehr mit.
    Herder – hatte der nicht ein Augengeschwür gehabt? Ihm war so, als hätte der ein Augengeschwür gehabt.
     
    Über einem See – die herabhängenden Zweige der Weiden waren in das Eis eingefroren – lag ein einzelnes Haus, breit und behaglich. Davor ein bronzenes Reh, mit Schneekappen bedeckt.
    Vorsicht, bissiger Hund!
    Die Terrassentür des Hauses stand offen, die Flügel klappten im Wind. Und neben der Tür lagen drei erschossene Hunde. Niemand da unten nahm Notiz von diesem Haus, weshalb sollte man sich die Mühe machen und den Hügel hinaufklettern? dachten die Menschen. Immer weiter, weiter, weiter war die Losung, von Gerüchten in
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