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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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später waren Kind und Mutter tot.
    «Die war doch immer so lustig», sagte Peter.
    «Ja», antwortete der Studienrat, «der Tod nimmt alle mit, so wie sie sind.»
    Peter schwieg eine Weile. – «Du denkst jetzt gewiß an deine Mutter, mein lieber Junge», sagte Wagner. Aber Peter dachte gar nicht an sie, er dachte an Georgenhof, an sein Taschenmesser mit den vier Klingen, das ihm sein Vater mitgebracht hatte im vorigen Jahr. Daß er das nicht mitgenommen hatte, das wurmte ihn. Und außerdem überlegte er, was wohl der Ausdruck «opak» bedeute. Die Situation sei «opak», hatte der Studienrat gesagt.
     
    Sein ganzer Kummer sei, sagte Wagner, daß er diesen vermaledeiten Koffer mit sich herumschleppen müsse, von dem Baron, dieses bleischwere Ding, mit all den Chroniken. Er sei schon mehrmals versucht gewesen, ihn stehenzulassen ... Und auch davon gab es was zu erzählen, wie schwierig es gewesen war, den Koffer herauszuholen! Was er sich da alles habe anhören müssen von den Leuten dort.
    Und Drygalski noch geschimpft, was das soll ... Und Sonja gefragt: was da drin ist.
    Drygalski sei übrigens auch auf und davon, der habe seine Frau einfach sitzenlassen!
     
    Katharinas Situation hatte sich sehr verändert. Der Beamte war nicht wieder erschienen. Man hatte sie allein in der kalten Zelle sitzen lassen, mit ihrer weißen Mütze auf dem Kopf. Waren die Bewacher überhaupt noch da? Sosehr sie das Türen- knallen und Schlüsselklirren geängstigt hatte, diese Stille jetzt war ihr unheimlich.
    Aber dann wurden in aller Herrgottsfrühe die Zellentüren aufgeschlossen, alles raustreten, «Nicht sprechen!»,und in den Hof wurden sie getrieben, jeder bekam ein halbes Brot und: «Nehmt eure Decke mit! »
    Ziemlich sofort schob sich ein unrasierter Mann mit Krücken an Katharinas Seite. Er hatte eine lange Wunde über der Stirn, wie von einem Säbelhieb. «Gnädige Frau ... », flüsterte er.
    Das war Schünemann, der Nationalökonom, den hatten sie aufgegriffen mit einer Tasche voll gefälschter Ausweise und Lebensmittelkarten.
    «Gnädige Frau ... »,sagte er. – Wollte er das Herz ausschütten? Oder das Gewissen erleichtern? Die Feldpostmarke, weshalb hatte er sie auch mitgenommen?
    Das nützte nun auch nichts mehr. «Mund halten!» wurde gerufen, und dann wurde das Tor aufgemacht, und sie mußten abmarschieren.
     
    Durch die Stadt marschierten sie, dreißig Gefangene, und am Senthagener Tor kamen noch einmal dreißig KZ-Häftlinge dazu. «Wohin?»
    «Mund halten! Es wird sofort scharf geschossen!»
     
    In westliche Richtung wurden sie geführt. Und als sie eben an Georgenhof vorbeitrotteten, explodierte die große grüne Brükke, der Stolz Mitkaus. Der Treck stoppte, und dann wurden die Wagen über das Eis der Helge geleitet, immer mehr Wagenfuhren aufs Eis, hier staute sich die Sache, weil es für die Pferde schwierig war, die schweren Wagen die Uferböschung hinaufzuziehen. Und da brach dann das Eis und die Wagen versanken, und die Schreie der Menschen klangen aus der Ferne wie ein großer Seufzer.
     
    Katharina hielt den Kopf gesenkt. Wie die andern schaute sie nicht links noch rechts. Schünemann an ihrer Seite schwang sich zwischen den Krücken dahin.
    «Gnädige Frau ... », sagte er immer wieder. Wollte er ihr sagen, wie schön das Leben doch früher gewesen war? Er hatte doch auch bessere Tage gesehen?
    «Mund halten!» riefen die Posten, und dann zerrten sie ihn am Mantel heraus aus der Reihe und schlugen ihn. Dieser Mann hatte im deutschen Volk zur Destabilisierung des Widerstandswillens beigetragen, und nun quatscht er hier auch noch herum. Er verlor seine Krücken, und als er sie aufheben wollte, schlugen sie ihn erst recht.
     
    Katharina hatte gedacht, daß Lothar Sarkander sie vielleicht herausholt? Würde im letzten Moment in seinem Wagen angefahren kommen, mit einem weißen Tuch aus dem Fenster heraus winken: Gnade! Gnade! und sagen: «Mit dieser Frau, das ist ein Irrtum», und sie dann einsteigen lassen, wie er das früher einmal getan hatte, die Wagentür aufhalten, sie einsteigen lassen und mit ihr davonbrausen?
    «Diese Frau ist ein ganz besonderer Mensch ... »
    Die See! Sie hatten auf der Anlegebrücke gestanden, Möwen! und die Wellen hatten schwapp-schwapp an die hölzernen Pfeiler geschlagen, ihr Hut wie eine Sonne hinter ihrem Kopf. Und er im Restaurant, am Abend, den Zigarettenrauch über die Kerze geblasen. Spielte ein ungarischer Stehgeiger «Avant demourir»? Darüber hatten sie noch
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