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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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von einer Frau, die sich mitten auf die Straße gestellt hatte. Ihre alte Mutter, ob sie die nicht mitnehmen könnten und ins Krankenhaus schaffen?
    «Klar, machen wir! » riefen die Soldaten, und dann wurde die alte Frau, Heil Hitler, in den Wagen gehoben und mit Decken zugedeckt und weiter ging’s.
    Aber es war die falsche Richtung! Es dauerte eine Weile, bis sie es kapierten, daß Peter in die entgegengesetzte Richtung wollte! Da hielten sie an und ließen den Trommelbuben aussteigen. «Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen!» sagten sie.
    Heil Hitler. Gern hätten sie ihn bei sich behalten, so ein netter, blonder, deutscher Junge? Aber er war ihnen auch schon ein bißchen lästig geworden.
    Die alte Frau unter all ihren Decken streckte die Hand nach ihm aus. Sollte er denn bei ihr bleiben?
     
    Peter wußte nicht, wohin er gehen sollte. Links oder rechts? Ans Haff wollte er, wie es das Tantchen vorgehabt hatte. «Alles andere ist Unsinn!» Ans Haff? Ja, aber wohin? in welche Richtung? Er brauchte eine Zeit, bis er es wußte: Zurück muß ich; dorthin, woher ich gekommen bin.
    Aber einfach umzukehren und den Weg wieder zurückzutippeln, den die SS-Leute gefahren waren, dem Wind, dem Schnee entgegen, womöglich an dem toten Wallach vorüber, das widerstrebte ihm.
    Er sah sich eine Zeitlang die vorüberziehenden Wagen an. Man müßte den Weg abkürzen, dachte er und löste sich aus der Kolonne und stieg querfeldein über das Schneefeld einen schmalen Pfad den Hügel hinauf.
    Hinter ihm zogen die Trecks die gewundene Straße entlang, ein Wagen hinter dem anderen, langsam dahin, niemand achtete darauf, daß er sich hier fortmachte.
    Es dauerte nicht lange, da hatte er einen mageren Fichtenwald erreicht. Hier war es still. Noch hörte er das Schnauben der Pferde, das Klirren der Ketten, das Mahlen der schweren Wagenräder. Aber dann stiefelte er schon durch das Wäldchen, und es war ganz still.
     
    Schließlich kam er an ein Haus, das war eine Dorfschule: Die Tür war angelehnt, und auf dem Flur lag ein toter Mann, um den Kopf herum Erbrochenes. Das war wohl der Lehrer gewesen. Schnee war durch den Türspalt hereingeweht und hatte denMann bestäubt. Tisch und Stühle in der Küche waren umgestürzt, Geschirr lag zerschmettert am Boden. Töpfe, Pfannen. Im Herd glomm noch ein wenig Glut, die Peter vorsichtig anblies. Offenbar war das Häuschen erst kurz zuvor verlassen worden.
    Aus dem Schurrmurr, der den Boden bedeckte, las er ein paar Gurken auf, und in der Speisekammer fand sich ein Napf mit Soleiern.
     
    Er stellte die Stühle auf und verzehrte die Gurken. Brot fehlte, woher Brot nehmen?
    Er schnüffelte ein wenig umher: Von der Küche führte eine Tür in einen Klassenraum. Die kleine Schule hatten die Behörden mitten zwischen zwei Dörfer gesetzt. Das hatten sie für praktisch gehalten. Man hatte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen.
    Im Klassenraum waren die Bänke an die Wand geschoben, und auf dem Boden lag Stroh. Hier hatten Menschen übernachtet. Hier würde auch er schlafen können, aber der tote Mann auf dem Flur? – Das Stroh war beschmutzt, es stank nach Urin und Kot.
     
    Er stieg die Treppe hinauf. In der Schlafkammer lag eine tote Frau, dicht neben sich ein kleines Mädchen, auch tot. Das kleine Mädchen hatte sich an der Frau festgekrallt, und die Tote hatte ihren Arm um das Kind gelegt. Durch das zerschlagene Fenster strich der Wind.
    «Sieh nicht hin», sagte Peter, aber er blieb doch in der Tür stehen. Über dem zerwühlten Bett ein Schutzengelbild in goldblinkendem Rahmen. Der Engel führte einen kleinen Jungen über eine schmale Brücke.
    So ein Bild hing auch bei den Drygalskis.
    Das Wohnzimmer der Lehrersleute, ein Büfett mit Kristall drauf und oben drüber ein Heidebild. Im Arbeitszimmer ein Regal mit Büchern, «Der Bücherschatz des Lehrers». Vom Schreibtisch die Schubladen aufgezogen, der Inhalt durchwühlt. Die Lehrersleute hatten vertraut auf das Gute im Menschen «uns passiert schon nichts», und dann hatten sie doch das Rattengift genommen. Und nun lagen sie tot in ihrem Erbrochenen.
    Vielleicht hatte der Lehrer noch die Schreie seiner Frau gehört und das Wimmern der Kleinen, und dann war es aus gewesen mit ihm.
    Sein Leben lang hatte er den Schulkindern die Himmelsrichtungen erklärt und was «Horizont» bedeutet. Der Osten und der Westen. Kopfrechnen, Schönschreiben ... Ein alter Mann mit Uhrkette überm Bauch. Im Ersten Krieg waren die Russen ja auch
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