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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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dagewesen, und sie hatten sich anständig benommen ...
     
    Peter setzte sich an den Schreibtisch. «Soll ich hier ein wenig aufräumen?» dachte er. Das Dienstsiegel fehlte. Das Stempelkissen lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Auf das Siegel hatten es die Menschen wohl abgesehen gehabt – ein Hoheitsadler? Für so manche Bescheinigung gut zu gebrauchen.
    «Hier kannst du nicht bleiben», sagte Peter zu sich.
    Aber er blieb am Schreibtisch des Schulmeisters sitzen, er guckte sich fest.
     
    Vom Geruch einer Zigarette wurde er aufgestört. Es waren zwei Männer im Haus, man hörte sie in der Küche reden. Soldaten? So still wie sie gekommen waren, so still gingen sie auch wieder fort. Hier war nichts zu holen. Peter wäre gern mit ihnen gegangen, aber sie waren schon fort.
    Er las in den Versäumnislisten und im Schullehrplan, Aufsatzhefte... Die Strafliste: «Drei Streiche mit dem Stock wegen Lügens.»
    Dann stand er auf. Jetzt mußt du machen, daß du fortkommst, dachte er, und er folgte den Spuren der beiden Soldaten, die würden schon wissen, wo’s langgeht? Auch andere Menschen waren hier gegangen, und sogar Wagenspuren waren auszumachen: alle in ein und dieselbe Richtung.
     
    Nachdem er zwei Stunden gelaufen war, kam er auf freies Feld, und da sah er ihn wieder, den Treck, ein Wagen hinter dem anderen. Er konnte schon das Murmeln und Rufen der Menschen hören. Viel hatte er nicht gewonnen durch diese Tour.
    Bald hatte er die Straße erreicht, niemand wunderte sich darüber, daß da ein einzelner Junge den Berg herabkommt. Die guckten kaum auf, die guckten woanders hin.
    An beiden Seiten der Straße lagen umgestürzte Wagen, tote Tiere mit aufgeblähtem Leib und tote Menschen, alte Menschen, Kinder. Viele Kinder. Von Schneewehen waren sie halb bedeckt.
     
    Eine große, einzelne Eiche stand an der Straße. Und an einem ausladenden Ast hingen mehrere Menschen, Soldaten mit geöffnetem Mantel und ohne Mütze. Waren es die beiden Soldaten aus dem Haus? Ein Schild hatten sie vorm Bauch: «Wir waren zu feige zum Kämpfen ... » Neben ihnen hingen ein Mann und eine Frau. Der Mann mit viereckiger Polenmütze auf dem Kopf, am Finger einen Verband. Und die Frau war Vera.
     
    Wir haben geplündert
     
    Peter hatte mal jemanden ein Kreuz schlagen sehen, das hätte er jetzt auch gern gemacht, sich unter den Baum stellen und einKreuz schlagen. Aber er war ja nicht katholisch. Er nahm seine Mütze ab, als müsse er sich kratzen, immer schön vorsichtig sein, denn an der Straße stand ein Auto mit Feldgendarmen. Heil Hitler. Die Toten schwankten hin und her.
     
    Die «Kettenhunde» hielten einzelne Verwundete, die zwischen den Wagen dahintrotteten, an und kontrollierten sie, Heil Hitler, ob das wirklich so schlimm ist, ein Schuß in den Arm? Ob die nicht trotzdem ein bißchen schießen können oder wenigstens Wache halten? Die Leute waren mit Papierbinden verbunden, die von Blut durchtränkt waren. Paketanhänger hatten sie am Mantel, auf denen stand, daß sie ordnungsgemäß verwundet waren. Stufe sowieso. Sie hielten die blutigen Gliedmaßen als Indiz in die Höhe. Heil Hitler, alles in Ordnung.
    Keine Feiglinge, keine Drückeberger? Eben mal abwickeln den Verband? Nein, alles hat seine Richtigkeit.
     
    Ein Stück weiter unten stand eine Jugendherberge, die war im Stil eines Niedersachsenhauses gebaut, ein großes Ding. Sie hieß «Johann-Gottfried-Herder-Jugendberge», das stand außen dran. Peter ging hinüber zu dem großen Gebäude, vor dem zwei lange Hakenkreuzfahnen wehten. Hier war wohl der Appellplatz gewesen, hier hatte die deutsche Jugend mit leuchtenden Augen zur Fahne aufgeschaut, hier war über das Feuer gesprungen worden.
     
    Nichts kann uns rauben
    Liebe und Glauben
    zu unserm Land ...
     
    Der Appellplatz wurde von einer halbhohen Mauer wie von zwei Armen weit umfangen. Am Giebel des Haupthauses hattendie Maurer aus Ziegeln eine Kornhocke geformt und die Jahreszahl «1936» darunter. An den Albert-Leo-Schlageter-Brunnen in Georgenhof erinnerte das Ganze, aber der war ja natürlich viel kleiner als dieses prachtvolle Gebäude.
     
    Die Feldgendarmen fuhren vor und stiegen aus, Heil Hitler, um ihren Vorgesetzten Meldung zu machen: zwei Feiglinge aufgeknüpft, und zwei Plünder-Russen ebenfalls.
    «Gut, gut! » sagten die Vorgesetzten, Heil Hitler. – Sie hatten das Büro des Jugendherbergsvaters für sich reklamiert, von hier aus konnten sie auf die Straße gucken, ob der Wagenzug auch ungehemmt fließt.
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