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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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blühender Apfelbaum, und hinter dem Haus der Widerhall des Geigenspiels.
    Er streunte durch die Straßen – die blühenden Vorgärten –,und wenn Fliegeralarm kam, drückte er sich in einen Keller zu den Menschen dort mit ihren Koffern und Säcken. Er lauschte auf das Flakgeschieße und auf die dumpfen Einschläge der Bomben, und wenn’s vorüber war, streunte er weiter durch die Straßen. Er sah Matrosen mit Handgranaten im Koppel, Kiel 1918, und alte Volkssturmmänner – «Weh, du hast sie zerstört, die schöne Welt» – und auch SS, wie zum Appell mit blanken Stiefeln. «Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu ... » Bereit zum Gefecht. Sie würden sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.
     
    Ein Schwarm Diakonissen mit weißen Hauben, Heimkinder an der Hand: «Wo geht’s längs? Wo geht’s längs?» Hierhin – dorthin? Vor oder zurück?
     
    In all dem Hin und Her sah Peter einen Hut, eine Frau mit einem Hut auf dem Kopf, den er kannte. Es war ein Hut seiner Mutter, schwarz mit einer roten Feder, und die Frau war Frau Hesse, und hinter ihr hertrottend Eckbert und Ingomar. Schiffskarten hatte sie in der Hand, damit wedelte sie in der Luft herum. Einmal im Leben muß der Mensch auch Glück haben ...?
    Peter drückte sich in einen Torweg. Mit diesen Leuten wollte er nicht zusammentreffen.
     
    Zwischen den abgestellten Treckwagen sah er ein Mädchen mit weißen Kniestrümpfen. Es saß auf der Deichsel und wippte und sah ihn an. Später, als er nach ihr suchte, war sie fort.
    War das Elfie? fragte er sich und rechnete an den Fingern nach: acht Jahre alt müßte sie jetzt sein? – Die Mutter, er sah sie hinter der heulenden Schwester herlaufen. Geschrei! Lange her. War das so gewesen? Die Treppe hinauf. Und eines Tages hattedie Schwester im Bett gelegen und sich nicht mehr gerührt. Und die Mutter hatte nicht geweint.
    Er hätte dem Mädchen mit den Kniestrümpfen gern von erdbraunen Gestalten erzählt und von der Hausorgel und den kristallenen Lüstern. Er hätte ihr auch gern den letzten silbernen Löffel geschenkt. Hatte er ihn denn verloren? Und wo war das Mädchen geblieben? In seiner Hosentasche fand sich der vertrocknete Blumenkranz aus der Kutsche. Er zerbröselte ihn. Und erst als er ihn zerstört hatte, fiel es ihm ein: Das waren ja die Blumen aus der Kutsche.
     
    Wenn ich wüßt’,
    wen ich geküßt,
    um Mitternacht am Lido.
    Wer das wohl gewesen ist,
    um Mitternacht am Lido ...
     
    «Isabelle», ein weißes Hotel an der Promenade, mit Tarnfarbe bemalt. Auf der Terrasse stand noch ein letzter Liegestuhl, Peter setzte sich und sah den Schnellbooten und Barkassen zu, wie sie die Menschen hinausbrachten zu den großen Schiffen in der Ferne. Waren sie denn noch immer nicht voll?
     
    In der Bucht waren schon viele Dampfer versenkt worden, die Masten standen über dem Wasserspiegel, wie die Köpfe der Pferde im Eis des Haffs.
     
    Peter stand auch mal bei den Fremdarbeitern, die spielten Mandoline und tanzten. In einer Turnhalle waren sie untergebracht, hier brutzelten sie sich was und warteten darauf, daß es nach Hause geht.
    War auch Marcello, der Italiener vom Waldschlößchen, dabei?
    Und der Rumäne, der Geld verschwinden lassen konnte, ohne daß man wußte, wie? Und der Tscheche mit der ledernen Mütze? – Es kam auch ein Trupp Franzosen anmarschiert, und sie alle wurden in einen offenen Prahm verladen. «Komm mit! » rief einer Peter zu. Nein. Er wollte nicht. Er wartete noch ab. Auch Verwundete wurden auf den Prahm geführt. Daß schon ein Trupp KZ-Häftlinge drinsaß, hatte Peter nicht mitgekriegt. Die mußten sich im Bug aneinanderdrängen, und die Soldaten mit ihren blutigen Verbänden spuckten vor ihnen aus.
     
    Als Peter sich gerade einen Revuefilm ansah, gab’s wieder mal Alarm, und ziemlich sofort fielen Bomben. Der offene Prahm war getroffen worden, draußen auf See, und sofort untergegangen.
    Am nächsten Tag wurden die Leichen angeschwemmt. Die Verwundeten waren von den aufgelösten Papierbinden ihrer Wunden umgeben wie von wehenden Girlanden. Lag eine weiße Kappe am Strand? Weiß, aus dem Fell eines Lammes gemacht?
     
    Bisher hatte Peter es nicht eilig gehabt. Aber nun waren es doch sehr viel mehr Menschen geworden, die am Hafenkai standen, um mitgenommen zu werden, und Schiffe waren keine mehr zu sehen! Die Stadt war leer, aber am Strande standen sie und warteten. Ein Torpedoboot fuhr vorüber, ob da immer noch Menschen stehen, und sogar ein U-Boot ließ sich
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