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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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schon unterwegs sein? Immer dasselbe Bild. Alle dachten ans Entkommen, übers Eis des Haffs auf die Nehrung und von da aus heim ins Reich.
     
    Ist’s Pommernland, ist’s Schwabenland?
    Nein, nein, nein,
    das ganze Deutschland soll es sein.
     
    Dort würde man herzlich aufgenommen werden.
     
    Nach ein paar Kilometern drängte von einer Seitenstraße her eine unordentliche Kolonne von Gefangenen auf die Hauptstraße, links und rechts bewacht von Soldaten: Die Häftlinge schleppten sich schwankend dahin, mit letzter Kraft. Decken hatten sie sich umgelegt gegen die Kälte.
    «Was ist das denn?» fragte einer der Soldaten.
    «Das sind die Kinder Israel!» sagte ein anderer.
    «Die sollte man doch gleich einen Kopf kürzer machen ... » Wenn er Steine gehabt hätte, dann hätte er damit geschmissen. Um ihnen die Stößel vor die Füße zu rollen, war er zu faul.
    Es dauerte eine Weile, bis Peter kapierte, was dies für Gefangene waren, und ihm fiel es ein, daß seine Mutter dazugehören könnte, und er sah sich die Frauen genauer an. Die weiße Pelzkappe? Sah er sie?
    Sah er die weiße Kappe?
    Er nahm das Brot und dachte, er müsse was abbrechen undihnen hinwerfen, wie die Eltern im Märchen ihren Kindern. Aber das Brot war ein Klotz aus Eis.
    Es war das letzte Mal, daß Peter seine Mutter sah. Aber er sah sie gar nicht.
     
    Am Haff stoppte der Wagen, da war die Reise zu Ende. Da ging es nicht mehr weiter. Das weite vereiste Haff. Hier warteten Hunderte von Wagen, einzeln wurden sie auf die Eisfläche geleitet, erst Verwundete aufsteigen lassen, Heil Hitler, dann ab! Abstand war zu halten, immer fünfzig Meter, sonst bricht das Eis ein! Tannenbäume und Büsche wiesen die Schneise, an die man sich halten mußte. Nur diese Schneise nicht verpassen! Links und rechts guckten Pferde aus dem Eis, dort waren Wagen eingebrochen. Hier hatten Bauern den Treck überholen wollen und waren eingesackt.
     
    Der Museumsdirektor suchte den Ortskommandanten. Dem wollte er sagen, daß er hier auf der Ladefläche allerhand wertvolles Kulturgut hat. Heil Hitler. – Kulturgut? Was war darunter zu verstehen?
    Das Begleitkommando wurde heruntergeholt, die konnte man gut anderswo gebrauchen.
    Der alte Herr mit seiner Frau und seiner jungen Tochter standen mit flügelschlagenden Mänteln neben dem Auto. Gemälde! Urkunden! Folianten! – Der Wagen wurde weggefahren. Mit dem Kulturgut würde man sorgfältig umgehen, das war ja selbstverständlich. Tja. Und dann war es die Tochter, die das Kommando übernahm, sie zog die Eltern aufs Eis hinaus: Nun würde man zu Fuß gehen müssen! Vielleicht hatte man ja Glück.
     
    Das weite vereiste Haff. Peter nahm das kleine Medaillon seiner Mutter aus der Tasche. Er hatte es immer in der Hand gehalten. Jetzt öffnete er es. Vielleicht enthielt es ein Bild von ihm? Oder von Elfriede? Oder von dem Vater in seinem weißen Jackett?
    Nein, in dem Medaillon hatte Katharina ein Bild von sich selbst verwahrt. Peter knipste es zu. Und in diesem Augenblick nahm der Vater im fernen Italien seine Pistole in die Hand und erschoß sich.
     
    Peter lief hinter einem Bauernwagen her aufs Eis hinaus. Eine Bäuerin saß auf dem Kutschbock, die hatte schon einen weiten Weg hinter sich. Ihre Kinder hatte sie wegen der Kälte zwischen Federbetten gesetzt.
    Peter hängte sich hinten an und ließ sich mitziehen. Auf dem Eis stand Wasser, das spritzte auf.

Die Barkasse
    E s ist viel Not vorhanden
    hier und in allen Landen,
    daß wohl ein Herz möcht zagen
    aus Furcht der großen Plagen ...
     
    E in paar Wochen später, es war Anfang Mai, stand Peter an einem Hafenkai und suchte mit dem Fernglas den Horizont ab, die Luftpistole im Hosenbund.
     
    Die See! Möwen! und die Wellen schlugen schwapp-schwapp an die hölzernen Pfeiler, «Avant de mourir»?
    Auf der Reede lagen große Schiffe, die nach und nach mit Flüchtlingen gefüllt wurden und abdampften. Motorboote, voll mit Menschen, fuhren vom Hafenkai hinaus zu ihnen. Immer hin und zurück. Und ein Schiff nach dem andern dampfte davon. – Ob ein Maler irgendwo saß und das grandiose Bild für immer festhielt?
     
    Peter hatte es nicht eilig. Er schlief in verlassenen Wohnungen, ging ins Kino, ließ sich aus einer Feldküche Erbsensuppe geben, spielte mit einer verirrten Katze, lief am Strand entlang. Und dann lauschte er auch mal in einem Hinterhof einsamem Geigenspiel. Diese Melodie kannte er doch? Er wollte in das Haus hinein, aber es war verschlossen.
    Vor dem Haus ein
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